#Lyrik
#Debüt

Unter der Hohen Brücke

Ella Felber

// Rezension von Angelika Reitzer

Digging in a Ditch Writing for a Place.

Die Autorin Ella Felber bezeichnet sich als „schreibende Architektin in Wien“, die Orte, die sie erforschen, planen und schaffen möchte, sollen vielstimmig sein, aus Empfindung, Erinnerung, Bewegung und Interaktion entstehen. In ihrer ersten literarischen Publikation, die im luxemburgischen Architekturverlag Point Nemo Publishing erschienen ist, der sich vereinzelt auch spartenübergreifend Sprache, Poesie und Fiktion widmet, liegt dieser Ort im Wiener ersten Bezirk, unter der titelgebenden Hohen Brücke, bzw. bildet der Tiefe Graben zusammen mit der ihn überbrückenden Straße „keinen besonderen Ort, sondern einen Findling“, eine Insel zwischen den Zeiten – oder eben Ebenen –, die übrigens von Auguste Groner 1926 in „So war mein Wien“ skizziert bzw. anschaulich betreten und beschrieben wurde, wie im Vorwort ausführlich zitiert.

Felber will nicht über, sondern für einen Ort schreiben, für die Absolventin der Akademie der Bildenden Künste gibt es einen gemeinsamen Ort für Architektur und Poesie, der durch Überlagerung entsteht, den man betreten, gestalten kann, indem wir interagieren, dem Ort unsere Erfahrung einschreiben, diesen nicht nur wahrnehmen.
Dieser gemeinsame Ort von Architektur und Poesie als neu geschaffener Platz findet sich auch auf den Seiten des Buches, im Satzbild, wenn in der Sequenz der Begegnungen „Im Innern der Stadt“ die Absätze wie Ab- und Aufstiege gesetzt sind oder im „scetchbook“, bei den lyrischen Texten und Skizzen, die Überschriften am Seitenende stehen.
Der zweisprachigen (deutsch/englisch) Collage aus essayistischem Inventar (auf Englisch), Prosa, Poesie, Notizen und vereinzelten Farbfotos (Interludien) ist ein Vorwort der Verlegerin vorangestellt, in dem sie das Max-Ernstsche Prinzip der „Frottage“ aus der Architektur anführt, bei dem die Vergangenheit und ihre materielle Artikulation vor der Erfindung der Fotografie festgehalten wird „als Zeichentrick, einen Ort abzunehmen, ohne Überblick auf Ausschnitte bedacht“. In der poetischen Ortsbegehung Felbers wird dieses Prinzip angewandt, aber auch abgewandelt.

Im Inventar, das eine Annäherung ans Experiment, den Ort zu schreiben, an Schreiben als Architektur ist, zitiert die Autorin verschiedene literarische Zugänge von Ilse Aichingers „Kleist Moos Fasane“ über Italo Calvinos „Unsichtbare Städte“, Fichtes „Platz der Gehenkten“ bis zu Clarice Lispector (um nur einige aus der illustren Auswahl zu nennen) und inventarisiert lustvoll und brauchbar Begriffe wie Konstruktion, Rahmung und Offenbarung, Direktheit, Reflexion, Assoziation, Integrität und Zugänglichkeit, aber auch das Verweilen, Bummeln (interessanterweise nicht Flanieren), Entfremdung und Wiederholung. Das permanente Changieren zwischen den mal eher dem Schreiben, dann wieder mehr der Architektur nahen Praktiken ist mitunter theoretisch sinnfällig hinterlegt, meistens durchaus offensichtlich (was möglicherweise aber eine subjektive Betrachtung der Leserin ist – auch eine Autorin, für die der Raumbegriff im Schreiben selbstverständlich ist). Dass laut Derrida Architektur die Suche nach einem wohnbaren Ort sei, mit Mallarmé es keine Rolle spiele, ob wir diesen Ort durch Schreiben, Zeichnen, Simulieren oder Bauen schaffen, da der Ort immer „stattgefunden haben wird“ und ein Ort oder Raum keine Unterscheidung trifft, ob er physisch hergestellt oder geschrieben wurde: Vielleicht liegt es an der Ungenauigkeit der übersetzenden Lektüre – die sprachlichen Unterschiede in vier (!) Sprachen, was den Ortsbegriff, Räumlichkeit und Präsenz betrifft, bleiben kursorisch, um nicht zu sagen, wie zufällig zitiert und gefällig assoziiert; die breit angelegten Spuren, was ein bewohnbarer Ort im bzw. als Text sein könnte, werden davon eher wieder verwischt.

„Im Innern der Stadt“: Die Zeit der Begegnungen ist oft der (frühe) Morgen, der Vormittag, es kann sich dabei um Bauarbeiter, Angestellte, aber auch Lichtflecken, Rollläden (häufig geschlossen) und die dahinter vermuteten Räume handeln, es können sich die Bewegungen vom Körper auf die Beobachtungen respektive das Beobachtete übertragen und umgekehrt das Rollen, Fallen, Zirkulieren des Gesehenen zum erzählenden Körper, erzählten Körper werden. Gebäude, Luft (Wetter), Straße, Schrift (Sprache), die Bewegungen (Gehen, Wandern, Spazieren), Geräusche, der Aufenthalt im (Straßen-)Raum und ein Du werden zu Architektur zusammengeschrieben (verschiedene Orte, Konstrukte, Bewohnbarkeiten), sind darin an- und abwesend. Manches erscheint als Nachhall unter der Hohen Brücke.

An einer (oder mehreren?) Stellen fragt Ella Felber, ob nicht jeder Ort ein Zwischenort ist. Das Konstrukt „Unter der Hohen Brücke“ kann die Frage, ob nicht jeder Raum auch die ebenso notwendigen Zwischenräume schafft, gut aushalten. Man geht in dem sorgfältig gestalteten, hybriden Buch gerne herum und hält sich darin mit Interesse auf und manche inspiriert es möglicherweise auch, weitere Inseln im Stadtbild und in der Literatur aufzusuchen.

Ella Felber Unter der Hohen Brücke
Poesie.
Mit Farbfotos von Helene Streissler und Ella Felber.
Luxemburg: Point Nemo Publishing, 2021.
202 S.; brosch.
ISBN 978-2-9199670-0-1.

Rezension vom 20.04.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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