#Sachbuch

Unser Herz zeigt nach dem Süden

Sigmund Freud

// Rezension von Iris Denneler

Reisebriefe 1885-1923.

Seit 1895, seit die finanzielle Situation im Wiener Haushalt es erlaubte und die Praxis das nötige Geld einbrachte, bis ins Jahr 1923, dem Jahr, als die schwere Krebskrankheit diagnostiziert wurde, unternahm Sigmund Freud seine jährlichen Sommerreisen – für ihn die Erfüllung eines alten Kindheitswunsches.

Freud fuhr fast immer ohne Familie, in Begleitung des Bruders Alexander, mit Kollegen wie Rank, Gattel oder Ferenczi, häufig mit der Schwägerin Minna (deren Beziehung zu Freud, so zeigen es die Briefe, doch wohl über bloße Freundschaft hinausging; Freud selbst merkt über Minna und Martha an, „daß die Leute euch verwechseln“), einmal reiste der Herr Papa auch mit der Tochter Anna. Nur selten war (und höchstens auf den ersten Etappen) auch die Ehefrau dabei. Martha blieb zurück in der Sommerfrische, dem Standquartier, das sie mit den Kindern in Altaussee oder in den schweizer Bergen bezog. Wohl wissend, daß es für den Gatten die Zeit der ungestörten Entspannung und des Laissez-faire war, ließ sie ihn ziehen (angebliche Menstruationsbeschwerden waren wohl nur ein Vorwand, um vom Mitreisen Abstand zu nehmen). Und ihr „Sigm.“, ihr „Papa“, dankte es mit unerschütterlicher Liebe, auch wenn aus dem „Mein theurer Schatz“ mit den Jahren ein gutmütiges „Geliebte Alte“ wurde.

Nichts weniger hatte Freud vor, als auf seiner Reise lange Beschreibungen zu liefern: weder in den zahlreichen Briefen an den Kollegen Wilhelm Fließ oder die Schwägerin, besonders aber nicht gegenüber seiner Frau Martha und den Kindern. Freud wollte, das spürt man deutlich, Distanz und Abstand von zuhause, er wollte sich den Genüssen des Augenblicks hingeben – allen voran den kulinarischen. Deshalb immer wieder die Einleitungsfloskel „Beschreibungen wirst Du nicht fordern“; und das hinterhergeschobene „intensive nachträgliche Bedauern, daß Du es nicht siehst“ sollte wohl eher den Zuhausgebliebenen die Erzählabstinenz versüßen. Familiäre Briefe und Nachrichten jedoch waren durchaus willkommen und wurden immer wieder ungeduldig angemahnt. Nicht zuletzt belegen die weitaus größere Anzahl abgesandter Postkarten als Briefe Freuds aus Distanzgründen vorgeschobene Schreibfaulheit, wobei der Absender den knappen Raum virtuos nutzte, indem er Fortsetzungspostkarten an einzelne Familienmitglieder schrieb, die dann zusammen doch einen ‚richtigen‘ Brief ergaben.

Freud hat auf Reisen nämlich durchaus fleißiger geschrieben: Ein Tagebuch soll es gegeben haben, überliefert sind Patientenbriefe, man weiß, daß er seinen beruflichen Alltag von der Fremde aus organisierte, daß er mitunter aus ganz anderen als hedonistischen Gründen reiste, nämlich zu Kuraufenthalten und Sanatorien, daß er Vortragsreisen unternahm wie die nach Amerika oder Holland. Also Vorsicht: Dieser Briefband ist als Auswahl zu verstehen, und das beinhaltet immer eine durch die Herausgeber vorgegebene Lesart. Das Nachwort ist so redlich, darüber zu informieren; aber manchmal bedauert man es schon, Freud in diesem Band nur als Vagabunden und Flaneur zu erleben. Doch wie er das tut – umwerfend!

Gerade deshalb, weil die Briefe mit Worten geizen, ist die Imagination des Lesers angeregt. Und der schön aufgemachte Band samt beigegebenen schwarz-weißen Fotografien (viele davon aus Freuds eigenen Erwerbungen), die Rekonstruktion der Reiseroute und die zusätzliche Aufzählung der Stationen, nicht zuletzt der beigegebene, instruktive Kommentar, das Literaturverzeichnis und das Register – das alles macht, daß wir uns mühelos hineinfühlen können in diesen Zauber des reisefreudigen Freud, und so nicht nur eine neue Seite über den Menschen selbst erfahren, sondern auch vieles über seine Zeit und Zeitgenossenschaft. Geschichte und Geschichtchen also, und das alles von einem Reisenden, der exzellent schreiben konnte, an Sprachspielen wie das über Faenza-Firenze-Fayencen seine Freude hatte.

Gerade weil Freud meist mit den Nachrichten knausert, sind die wenigen ausführlichen Schilderungen um so kostbarer, etwa die von dem herrlichen Lido in Venedig „den köstlichsten Sand zu Füßen“, der Unwirklichkeit einer Dampferüberfahrt nach Amerika, die Beschreibung Londons und der Engländer oder die Mär von der Übernachtung im Zimmer Galileis (er glaubt es dem Kustos gern), die wohl nur in der nahegelegenen Villa Il Gioiello stattfand, aber eben eine gute Episode abgibt.

Freud vertraute, obwohl oft mit dem Baedeker in der Hand, durchaus seinen eigenen Eindrücken („S. Geminnano meschuggene auf dem Berg gelegen Stadt mit 13 Thürmen“) oder erzählt die Mythen neu: „Soeben bin ich zur Erkenntnis gelangt, daß Adam nicht durch einen Apfel verführt worden ist – nur durch die Trauben, die wir soeben gegessen, wir alle waren für einen Moment im Paradies“. Er berichtet von Unterkünften in gräflichen Villen, wohlfeil und aufs beste bewirtet, von viel zu vielen, nicht-besichtigten Museen und Kunstobjekten (obwohl das Interesse an Archäologie und Psychologie ja eine der Verbindungen zwischen Beruf und Reiseleidenschaft war), von liebenswürdigen Reisegefährten und sensationellen Begegnungen (die leibhaftige Duse!) und immer wieder von den Köstlichkeiten der Tafel. Natürlich dürfen auch die klimatischen Bedingungen nicht fehlen und die Strapazen, die aber eher den Lieben das Zuhausbleibenmüssen versüßen sollten: „Man schämt sich, es allein zu genießen“…“Man ist auch immer ein bischen – vom Wein“.

Freuds genüßliches Reisen zeigt uns, was Reisen einmal bedeutete: zu sich selbst Distanz gewinnen, offenen Sinnes unvoreingenommen schauen und sich im Fremden neu spiegeln. Wie schrieb doch einmal Hermann Graf Keyserling im „Reisetagebuch eines Philosophen“ 1919: „Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum“. Für Freud hießen die kürzesten Wege Oberitalien, Venedig, Neapel und Rom, Livorno, Triest, Pontresina, Dalamtien, Südtirol, Toskana. Obwohl Freud auch nach England 1908, Amerika 1909 und Holland 1910 reiste, so zeigte sein Herz doch bis zum Schluß am liebsten „gegen Süden“.

Sigmund Freud Unser Herz zeigt nach dem Süden
Briefe.
Hg.: Christfried Tögel.
Mitarb. v.: Michael Molnar.
Berlin: Aufbau, 2002.
422 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 3-351-02944-6.

Rezension vom 08.04.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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