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Unheimliche Erinnerung - erinnerte Unheimlichkeit

Christoph Leitgeb

// Rezension von Roland Innerhofer

Christoph Leitgebs Studie hat einen doppelten Fokus: einen literaturgeschichtlichen und einen literaturtheoretischen. Der titelgebende Chiasmus verweist darauf, dass Erinnerung unheimlich sein, das Unheimliche aber auch in der Erinnerung distanziert werden kann. Das Unheimliche, das aus zunehmendem zeitlichem Abstand erinnert wird, ist in den untersuchten literarischen Beispielen eine traumatische historische Erfahrung: die des Nationalsozialismus.

Aus diesem Zusammenhang zwischen dem Unheimlichen und der Erfahrung traumatisierender Gewalt ergibt sich wenigstens für die deutschsprachige Literatur nach 1945 eine enge Verzahnung von Unheimlichem und Erinnerung. Wie der Verfasser bemerkt, ließe sich dieser Nexus aber auch in der literarischen Erinnerung an das Kriegsgeschehen in Jugoslawien aufzeigen. In vorliegender Studie spielen die aus Österreich stammenden Autorinnen und Autoren – Ilse Aichinger, Heimrad Bäcker, Thomas Bernhard, Maja Haderlap, Elfriede Jelinek, Hans Lebert, Josef Winkler – eine zentrale Rolle, dazu kommen u.a. die Deutschen Alfred Andersch, Heinrich Böll und Thomas Harlan, der Schweizer Binjamin Wilkomirski, der Ungar Imre Kertész, der Jugoslawe Danilo Kiš und der Italiener Claudio Magris.

Der Verfasser kann auf eine beeindruckende Zahl von Vorarbeiten zu dieser Studie aufbauen. Der Anhang verzeichnet insgesamt vierzehn eigene, zum Großteil in den letzten sieben Jahren entstandene Aufsätze, die sich mit dem Thema befassen. Häufig geht es dabei um Fallstudien, die aber nicht bloß der Illustration theoretischer Konzepte dienen, sondern durchaus auch den Eigensinn der literarischen Texte nachzeichnen. Anstatt sich auf einen Beleg der Theorie zu beschränken, spornen die Beispiele eine theoretische Reflexion an, welche die Vielschichtigkeit des Konzepts des Unheimlichen herausstellt.

Für eine Studie über das Unheimliche ist Freuds berühmter Essay zu diesem Thema ein unverzichtbarer Ausgangspunkt. Von Anfang an macht der Verfasser deutlich, dass fiktionales Erzählen den Kern dessen trifft, was in der psychoanalytischen Theorie das Unheimliche ausmacht. Wie in der Theorie so sind auch in den literarischen Texten Erinnerung und gegenwärtige Wahrnehmung nicht voneinander zu trennen. Die Stärke der Literatur liegt dabei darin zu demonstrieren, dass das Unheimliche nicht in erster Linie im Inhalt des Erzählten aufzusuchen ist, sondern aus der Form, der Struktur des Erzählens hervorgeht. Das Unheimliche bildet eine Herausforderung des Erzählens, indem es dieses provoziert, aber sich zugleich der Erfahrung im Modus eines tradierten Erzählens widersetzt. Es wundert deshalb nicht und belegt ex negativo Leitgebs Zugang, dass etwa die konventionell erzählten autobiographischen Romane Fred Wanders, die sich mit seinen Erfahrungen in den Konzentrationslagern beschäftigen, nicht zum Analysekorpus zählen.

Die erste Klammer, die verschiedene Begriffe des Unheimlichen miteinander verbindet, ist die Metapher des gespaltenen Raumes, mit der sich das zweite Kapitel vorliegender Studie befasst. In dieser Struktur erscheint das Unheimliche, wie Leitgeb anhand von Hans Leberts Die Wolfshaut, Thomas Bernhards Frost und Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten zeigt, an einem ‚Unort‘ jenseits und außerhalb dessen, was als geographisch verifizierbarer Ort oder als ‚Gedächtnisort‘ fungiert. Von hier aus entwickelt der Verfasser im Anschluss an Freuds Theorie den Zusammenhang von Unheimlichem und Angst. Wenn nach Freud das Unheimliche Effekt verdrängter und wiederkehrender Angst ist, so ist das Unheimliche in der Literatur „eine ästhetische Verarbeitung der ursprünglichen Angst, die zum Sprachlichen tendiert.“ (S. 34) Als solches kann es auch mit Lustempfinden verbunden sein. Ob aber, wie der Verfasser meint, Angst Lustempfinden ausschließt, sei dahingestellt: Der Stellenwert der Angstlust, die sich nicht nur nachträglich, sondern auch während der Angstempfindung einstellen kann, wäre hier noch genauer zu bestimmen. In Freuds Topologie des psychischen Apparates wird die Angst jedenfalls, wie Leitgeb zeigt, nicht nur durch Bedrohungen des Ichs, die vom Unbewussten ausgehen, sondern auch von denen, die von der Instanz des Überichs ausgehen, verursacht. Jaques Lacan knüpft an dieses Konzept an, wenn er mit Rückgriff auf Kierkegaard und Heidegger das Unheimliche als existentielle Verunsicherung des Subjekts durch das ‚Andere‘ versteht. An dieser Stelle unterläuft dem Verfasser ein schöner Fehler, wenn er Heideggers Vortrag Bauen, Wohnen, Denken in Wohnen Hausen Denken (S. 44) umwandelt. Man ist versucht, dieses Sich-Einschmuggeln des „Hausens“ für keinen Zufall zu halten, spielt doch das Hausen, wie Leitgeb im Verlauf seiner Studie zeigt, für das Unheimliche eine Schlüsselrolle: In der Theorie des Unheimlichen evoziert die Vorstellung vom ‚Haus‘ bzw. vom ‚Zuhause Sein‘ zugleich die Unmöglichkeit, das Innen vom Außen, das ‚Heim‘ vom ‚Fremden‘ zu trennen – besonders auch dann, wenn unter ‚Haus‘ die Sprache gemeint ist. (S. 274) Dass die Verbindung von Unheimlichem und Angst nicht nur eine Verunsicherung der Grenze von Innen und Außen, sondern auch von Oben und Unten bewirkt, macht die Analyse von Texten Ilse Aichingers in diesem Kapitel deutlich: Mit Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit und in der Transformation von Figuren und Räumen, die bei Kafka eine zentrale Rolle spielen, subvertieren Aichingers Texte eine Sprache der Macht, die gerade dadurch unheimlich wird, dass sie sich auf das ‚Heimische‘ beruft.

In Freuds Theorie des Unheimlichen konstatiert Leitgeb ein „Schwanken zwischen Trieblehre und Ästhetik“ (S. 71). Er interessiert sich dabei besonders für den ästhetischen Aspekt des Unheimlichen. Die im dritten Kapitel thematisierte Beziehung zwischen der Phantastik und dem Unheimlichen macht die Probleme sichtbar, die sich ergeben, wenn das Phantastische – etwa im strukturalistischen Ansatz von Uwe Durst, der zuweilen als das Nonplusultra der Phantastiktheorie gehandelt wird – auf der Grundlage einer Autonomieästhetik allein als textimmanentes Phänomen betrachtet wird. In einer solchen „minimalistischen“ Perspektive (S. 76) verflüchtigt sich das Unheimliche. Anknüpfend an Tzvetan Todorovs nach wie vor diskussionswürdige Phantastikdefinition hält der Verfasser an einem Konzept des Phantastischen fest, das nicht auf die Spannung zwischen Text und Kontext und damit auf den Bezug auf das Reale verzichten kann. Die Konfrontation mit dem Realen exemplifiziert das Motiv der Puppe, die im Zwischenbereich von Leben und Leblosem angesiedelt ist. Puppentexte von Goethe, E.T.A. Hoffmann und Heinrich Heine werden denen von Heinrich Böll, Alfred Andersch und Ilse Aichinger gegenübergestellt, wobei die Puppe, im Sinn von Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen, eine Subjekt-Objekt-Inversion verbildlicht: Die Geschichte hat kein menschliches Subjekt mehr, der Mensch wird zum Objekt einer Geschichtsmechanik.

Was schon in der Phantastiktheorie Todorovs angelegt ist, radikalisiert die (poststrukturalistische) Dekonstruktion: das Verschwimmen der Grenze zwischen Fiktion und Realität, indem letztere selbst als rhetorisch erzeugt und vermittelt begriffen wird. Wie der Verfasser darlegt, wird in der Folge Freuds Theorie in den Zwischenbereich von Wissenschaft und Fiktion gerückt und die Trieblehre zugunsten der Semiotik ‚verdrängt‘. Die unheimliche Wiederholung bezieht sich nunmehr auf die Zeichen und die Schrift. Auf den Vorwurf des historischen Relativismus, der mit Blick auf den Nationalsozialismus zum Revisionismus verschärft wurde, konterte Jacques Derrida mit dem Verweis darauf, dass das Erzählen von Geschichte immer schon den Charakter der Konstruktion aufweise; das Beharren auf authentisches, ‚richtiges‘ Erinnern laufe Gefahr, zur Legitimation neuer (totalitärer) Herrschaft zu verkommen. Thomas Harlans Heldenfriedhof wird vom Verfasser als Probe aufs Exempel präsentiert. In seiner unentwirrbaren Vermischung von Dokument und Fiktion zeugt dieser Roman von einem irreduziblen Unheimlichen, das der Erinnerung an das Entsetzliche nicht auszutreiben ist.

Die Abgrenzung von einer totalitären Sprache ist auch die Intention von Jean-François Lyotards Konzeption des Erhabenen, das anders als bei Kant die Ästhetik eines Undarstellbaren meint. Das Unheimliche kann dabei, mit einem Ausdruck Harold Blooms, als „negativ Erhabenes“ (S. 165), als unaussprechliches, unsägliches Grauen verstanden werden. Wenn nach Lyotard der Schock und Schrecken nicht wie bei Freud verdrängt werden müssen, aber trotzdem sich erst später ‚zu Wort melden‘ können, so übernimmt Lyotard von Freud das Konzept der Nachträglichkeit. Als ein solcher ‚nachträglicher‘ Versuch, dem unheimlichen Grauen des Nationalsozialismus gerecht zu werden, kann Heimrad Bäckers nachschrift gewertet werden. In seiner Interpretation dieses Textes zeigt Leitgeb auf, wie Bäcker mit der Technik der isolierenden und neukombinierenden Zitatmontage die ideologische Sprache der Dokumente bloßstellt und wie das Unfassliche in den Lücken zwischen den widerstreitenden Diskursen aufscheint. Wichtig erscheint mir dabei die Verbindung des Konzepts der Nachträglichkeit mit einer Theorie der Neoavantgarde, die Hal Foster stark gemacht hat. Wenn Foster argumentiert, dass erst die Neoavantgarde das ‚avantgardistische Trauma‘ durch seine umarbeitende Wiederholung verständlich macht, so ließe sich diese These m.E. auch an Bäckers Text überprüfen und verschärfen: Im von Friedrich Achleitner konstatierten „Zusammenfall von Dokument und Entsetzen, Statistik und Grauen“ (S. 188) erhält die avantgardistische Montagetechnik eine vor der nationalsozialistischen Ära – selbst in Karl Kraus‘ Die letzten Tage der Menschheit – noch kaum vorstellbare politische Brisanz.

Eine weitere Auffächerung des Konzepts des Unheimlichen unternimmt die Studie im sechsten Kapitel. Wolfgang Isers Arbeit zur Schäferidylle bestimmt das Unheimliche als das Andere der Idylle, das in dieser immer mitgedacht ist. Dabei geht es weniger um den Topos „Et in Arcadia ego“, nach dem das Memento mori selbst die Idylle heimsucht. Iser ergänzt die Opposition von Realität und Fiktionalität um die Kategorie des Imaginären. Der Effekt des Unheimlichen entsteht dabei, so argumentiert Leitgeb, in dem Moment, in dem das Imaginäre als real erscheint und damit den Begriff der Realität angreift: „Das plötzlich ‚reale‘ Erscheinen des Imaginären legt den Gedanken eines unheimlichen, verborgenen Subjekts nahe, das den auftauchenden Zusammenhang von Imaginärem und Realem vermittelt hat – hinter dem Rücken der Person, die das unheimlich empfindet.“ (S. 205) Isers Triangulation ist aber zugleich auch das Verfahren, womit sich eine Theorie des Unheimlichen mit einer Theorie der Ironie verknüpfen lässt. Versteht man das Unheimliche als Effekt eines „Rahmenbruchs zwischen Imaginärem und Realität“ (S. 213), bei dem das Imaginäre als real erscheint, so schlägt das Unheimliche für einen außenstehenden Beobachter, der den Einbruch des Imaginären in das Reale als fiktiv durchschaut, in Komik um. Das Unheimliche und die Ironie verhalten sich demzufolge komplementär. Leitgeb zitiert Robert Pfaller: „Das Komische ist das Unheimliche der anderen.“ (S. 214) Im zweiten Teil des sechsten Kapitels, das wie die anderen interpretierenden Teile der Studie weit mehr als einen „Exkurs“ (S. XVII) einen Theorie-Test darstellt, führt der Verfasser solche Umschlageffekte zwischen Unheimlichem und Ironischem im Werk Josef Winklers vor. Bei Winkler werden theatrale Settings aufgerufen, welche die Position der Zuschauerin/des Zuschauers mit der der Leserin/des Lesers überblenden und verunsichern. Im jüngsten Roman von Winkler, Lass dich heimgeigen Vater oder Den Tod ins Herz mir schreibe, wird mit der unheimlichen Wiederkehr und Präsenz der Leiche des Naziverbrechers Odilo Globocnik, der schon in Thomas Harlans Roman eine zentrale Rolle spielt, das Gespenstermotiv an das Thema des Nationalsozialismus rückgebunden.

Die Verbindung von Unheimlichem und Ironie verfolgt die Studie im siebten Kapitel weiter, die vom parteiischen Übersetzer als einer unheimlichen ‚Figur des Dritten‘ handelt. Dieser begibt sich in eine „Position der Ironie“ (S. 244), wenn er sich entgegen dem Ideal des Übersetzens entweder mit dem Adressaten gegen den Autor oder mit dem Autor gegen den Adressaten verbündet. Hier schlägt der Verfasser den Bogen zur kulturwissenschaftlichen Theorie eines Homi Bhabha, einer Gayatri Spivak oder Emily Apter: Kulturelle Translation erzeugt im postkolonialen Kontext das Unheimliche „als Symptom einer Kultur, deren Selbstgewissheit durch die Latenz verdrängter Übersetzungsprozesse verunsichert wird.“ (S. 285) In Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke, die als Fallbeispiel für diese Erscheinung dienen, fallen Übersetzung und Fälschung zusammen: Fremde Erfahrung wird in eigene, Gelesenes in selbst Erlebtes ‚übersetzt‘. Das Unheimliche ergibt sich daraus, dass eben diese Translations- und Fälschungsprozesse verheimlicht, im Freudschen Sinn ‚verdrängt‘ werden.

Das vorletzte Kapitel vor dem Resümee führt in den Bereich des Gedankenexperiments und der Science Fiction. Es geht um Hilary Putnams Vorstellung eines Gehirns, das vom Körper abgeschnitten ist und dem Empfindungen über einen Computer vermittelt bzw. ‚vorgetäuscht‘ werden. Putnam will damit die Absurdität eines entkörperten Denkens belegen. Stanislaw Lem führt dieses Gedankenexperiment vom ‚brain in the vat‘ in seinen Sterntagebüchern weiter und stellt die Trennung von Innen und Außen in Frage, indem er die Möglichkeit ins Spiel bringt, dass selbst der beobachtende Wissenschaftler ein Gehirn im Tank, das heißt von der Wirklichkeit abgeschnitten ist. Diesen von Leitgeb untersuchten Beispielen ließe sich das Werk von Philip K. Dick hinzufügen, in dem die Unterscheidung zwischen isoliertem Gehirn und beobachtender Instanz noch radikaler verunsichert wird. So werden in seinem Roman Ubik in der Erzählung von in ‚Kaltpackung‘ am Leben gehaltenen Gehirnen Verstorbener die Erzählperspektiven derer, die dieses ‚Halbleben‘ beobachten, und die Erzählerstimmen, die von der Kommunikation mit ihm berichten, immer mehr vom Verdacht befallen, selbst ein solches gespenstisches ‚Halbleben‘ zu führen. Leitgeb verfolgt das Motiv des von der Wirklichkeit abgeschnittenen Sprechens und Denkens aber nicht im Bereich der Science Fiction weiter, sondern am Beispiel von Texten von Danilo Kiš, Elfriede Jelinek und Claudio Magris, die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen. Das Motiv des isolierten Gehirns wird hier mit dem Einbruch des Realen als Erfahrung von Gewalt verschränkt. Das führt nicht nur zum Zusammenbruch der für Putnam unabdingbaren Grenze zwischen Innen und Außen, sondern auch zu einer Subjekt-Objekt-Inversion: Das Gehirn ist nicht mehr Subjekt, sondern Objekt des Denkens. Die Entmachtung des Denkens angesichts des Grässlichen kulminiert im vollkommenen Gedächtnisverlust.

Das Resümee verklammert das achte Kapitel mit dem ersten, indem es auf den rhetorischen, insbesondere metaphorologischen Hinter- und Untergrund der systematischen Theorie verweist. Leitgeb beruft sich auf Blumenbergs Terminus der „absoluten Metapher“ (S. 272) aus dessen Paradigmen zu einer Metaphorologie. Teil dieser mit dem Unheimlichen verbundenen Rhetorik und Metaphorik ist auch das Modell des Theaters, das im sechsten Kapitel entwickelt wird. In Josef Winklers Texten, so zeigt dieses Kapitel, werden performative Sprechakte theatral inszeniert. Die theatrale Situation im Erleben des Unheimlichen setzt eine Spaltung von Theater und Realität voraus, die es aber zugleich verunsichert und unterläuft. Leitgebs Überlegungen könnten noch durch Hans Blumenbergs Schrift Schiffbruch mit Zuschauer ergänzt und bekräftigt werden. Blumenberg zeichnet hier die zunehmende Verunsicherung des Beobachterstandpunkts in der Moderne nach und entwirft eine Kippfigur, die zwischen der Rolle des Schauspielers und der Position des Zuschauers des von ihm selbst gespielten Spiels changiert. Im Anhang zu dieser Schrift gibt Blumenberg erstmals einen „Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“. Wenn im Sinne Blumenbergs in der „Unbegrifflichkeit“ die Distanz, die der Begriff präventiv zu den Dingen herzustellen trachtet, zurückgenommen wird, so wäre es vielversprechend zu überlegen, wie sich solche ‚Nähe‘ zum Unheimlichen verhält.

Es ist der große Vorzug der vorliegenden Abhandlung, dass sie nicht nur eine Vielfalt einleuchtender Textinterpretationen, sondern auch ein klar strukturiertes theoretisches Gerüst bietet, das zugleich offen genug ist, um weitergedacht und adaptiert werden zu können. Das Studium dieser Abhandlung öffnet viele Fenster, wobei das Personen- und Sachregister eine zweite, nichtlineare, zu weiteren Interpretationen anregende Lektüre erleichtert. So könnte etwa ein von der Forschung bislang noch unzureichend berücksichtigter Autor wie Alois Hotschnig durch die von Leitgeb vorgeführte Heuristik neuartig erschlossen und in einen ästhetischen und literaturtheoretischen Kontext eingebettet werden. Denn auch seine Romane und Erzählungen spielen oft an ‚Unorten‘, an denen das Unheimliche im Alltäglichen erscheint. Mit der unheimlichen Gegenwart verschränkt sich verschüttetes Grauen, dessen Spuren freigelegt werden: So erlebt in seinem Roman Ludwigs Zimmer ganz konkret das lange Zeit beinahe vergessene Konzentrationslager am Kärntner Loibl-Pass eine gespenstische Wiederkehr.

Leitgebs Studie orientiert sich nicht an theoretischen Moden, sondern reflektiert die Vielfalt möglicher Zugänge zum Unheimlichen. Indem darin Angst engstens mit Formen und Qualitäten der Wahrnehmung verbunden wird, erweist sich die Theorie des Unheimlichen als genuin ästhetische. Ästhetik erscheint dabei als alles andere denn eine anthropologische Konstante. Sie trägt eine deutliche historische Signatur und zeugt von einem beunruhigenden und unverzichtbaren Dissens.

Christoph Leitgeb Unheimliche Erinnerung – erinnerte Unheimlichkeit
Sachbuch.
Paderborn: Wilhelm Fink, 2020.
329 S.; geb.
ISBN 978-3-7705-6536-8.

Rezension vom 30.04.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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