#Prosa

Und ich schüttelte einen Liebling

Friederike Mayröcker

// Rezension von Martin Reiterer

Elias Canetti hatte sein Stück „Hochzeit“ um einen einzigen Satz bzw. Gegen-Satz herum geschrieben. Auch Mayröcker, so scheint es, schreibt ihre Texte, ihre Bücher, um Sätze oder Satzfragmente, um einzelne Wörter und Wortkombinationen herum. Aber freilich ist es nicht ein Satz, ein einziges Wort, sondern viele, und jedes dieser Wörter und Satzbruchstücke bildet verstreut und orchestriert über das ganze Buch ein kleines magisches Zentrum.

Dieser Schreibweise entspricht die Arbeitsweise mit Zettelchen und Notizblättchen, die als vielschichtiger Teppich das „Schreibkabinett“ der Autorin bedecken, die als „gehäuftes Wirrwarr“ ihre Behausung ständig an den Rand des Chaos drängen oder die als aufgenadelte Wegweiser durch den Schreiballtag führen und während des Schreibens in ihrem „Schosz […] zwitschern“. Die wuchernden Notizzettel sind Ergebnis eines pausenlosen Exzerpierens, Herausschreibens, Notierens. Die Autorin ist exzerpierende Lumpensammlerin, auf der Suche nach Wortfetzen, „Magie Partikelchen“. Folgerichtig, aber dennoch zum Erstaunen heißt es da: „ich lerne aus jedem Satz den ich lese“. Auf diese Art ist das Schreiben mit dem Lesen verknüpft. Das Lesen als Fortbewegungsmittel hin zum Schreiben zeichnet sich schließlich als gezieltes Verfahren ab: „dasz ich einen immer neuen Zipfel herausziehe ganz fremd, herausziehe und mein Eigenes daraus mache“.

Dass dieses Verfahren des Herausziehens und Aneignens nun auch auf die Ereignisse außerhalb des Lesens von Büchern wie hier von Gertrude Stein oder Jacques Derrida etwa anwendbar ist, zeigt die Fülle von Erinnerungen, Erinnerungsfetzen, Gesprächsfetzen, Beobachtungen, Bildern, Träumen, kleinen Begebenheiten und Ereignissen, angedeuteten und anerzählten Episoden, die da ineinandergeflochten und eingebettet sind in dieses außergewöhnliche Werk. Das Alltagsgefüge, das Biografische wird allerdings von einem zwar verzweigten Zentrum her angezogen, von ihm durchdrungen: Da ist zum einen der Schmerz der Autorin um den Tod von Ernst Jandl: „weil ich kreise um dich […] ich kreise unaufhörlich um dich und ich weine um dich schon so viele Jahre“ und „die Wunde war noch empfindlich und ich erleide die Nervenzertrümmerung“. Zum anderen ist es ihre gemeinsame Lebens- und Liebesgeschichte, die hier in Bruchstücken, in Andeutungen oder ausführlichen Details Eingang gefunden hat. Wie sehr es sich dabei um eine Schreibbeziehung handelt, kommt in erstaunlichen Bildern, Konstellationen, durch: „und ich sitze im Arbeitsturban und EJ mit der Lichtmütze kommt mir entgegen“. Was nicht abgebrochen ist, ist das Zwiegespräch mit ihrem Schreibgefährten: „Bin mit dir wie mit Ätherwellen verbunden, sage ich zu EJ.“ Daran wird offensichtlich und nachvollziehbar, dass es sich bei diesem wunderlichen Buch einer über 80-jährigen Autorin auf keinen Fall um das Buch einer gebrochenen, einer angeschlagenen Autorin handelt: Es ist ein Buch voller „HOCHSPANNUNG“ und „Gedanken Aufregung“, vom Anfang bis zu seiner Erschöpfung, denn das Ende, so heißt es da, ist kein richtiges, es komme mit der Erschöpfung.

Dann florte es um mich herum und ich schüttelte einen Liebling.
Wenn Mayröcker auf einer der letzten Seiten ihres Buches von der „Genauigkeit in der Melancholie“ schreibt, so kann man diese Präzision auch in einem der zentralen Leitmotive des Buches lokalisieren, dem schließlich der Titel entnommen ist: Trauer und Glück, Melancholie und Erregung sind hier einzigartig ineinander verschränkt in dem vibrierenden Bild des „Florens“. Das Gewebe aus Trauerflor und Blütenpracht bildet den Hintergrund für das Schreiben (dieses Buches), das um den „Liebling“ kreist. „Liebling“ freilich lässt unvermittelt an den Lebensgefährten der Autorin denken. Verstärkt wird diese Verknüpfung durch das Bild des Schüttelns, das Sapphos Gedichtfragment vom „gliederlösenden Eros“ evoziert: „Schon wieder schüttelt mich der gliederlösende Eros“. Doch „Liebling“, so stellt die Lektüre heraus, ist auch und vor allem die Sprache, der Text, das sind die Wörter.

Begegnung mit dem Liebling Sprache, das bedeutet, sich von ihr tragen zu lassen, „als sei ich ausgestattet mit Fittichen“ (Himmelsluft, Äther): ins „Zentrum des Schreibens und Schweigens“, ins „Zentrum des Schreibens und Schreiens„. Schreiben ist „nämlich Ausnahmezustand„, bedeutet, „auszerhalb dieser Welt und gleichzeitig in der Welt“ zu sein. Daraus bezieht sich noch der Anspruch, der sich als Schreibverfahren verfolgen lässt, „und immer wieder das Kleine neben das Grosze stellen“, die „Darm Hysterie“ etwa neben die „Schreib Hysterie“.

Der Hysterie, dem Wahnsinn des Schreibens steht als messerscharf seziertes Schreckbild dieses Buches die Vorstellung vom Tod Jandls als „Entleibung des Textes“ gegenüber. Der Text, das Schreiben ist an den Leib, an die „Leibes Unruhe“ gebunden, an das „Gezappel“, das „poetische Herzklopfen“. Das weist auf eine grundlegende und tragende Komponente des Buches hin: den Rhythmus. Obwohl es sich immer wieder unterbricht, neu anfängt, an anderer Stelle weitermacht, wiederholt, verändert, variiert, lässt es den Leser kaum abbrechen, es hat den Sog eines durchkomponierten Musikstücks. Und obwohl es da heißt „bin Augenmensch„, wird man der Autorin freudig widersprechen. Man braucht kein Etikett „Ohrenmensch“, denn der Rhythmus schließt den ganzen Körper mit ein. Nicht allein die im Buch erwägten Titel, BLUES und DELIRIEN (nach einem Walzer von Josef Strauß), verweisen auf das Kompositorische. Musik ist ständiger Hintergrund und Bezugspunkt beim Schreiben, Bach, Mozart, Keith Jarrett oder immer wieder Maria Callas, wie „die neuesten Zettel […] also das neue Material der Beigesang“ sind. Noch in einem weit stärkeren Ausmaß wirken das Kompositorische und die Techniken der Komposition bestimmend. Eine Struktur aus Motiven und Leitmotiven, Themen, Variationen, Wiederholungen, Modulationen, aus abrupten Abbrüchen, Anakoluthen und raschen Wechseln hält das polyphone Material in ständiger Bewegung und setzt damit auch auf einer semantischer Ebene um, was in dem vorangestellten Motto von Peter Weiss angedeutet ist: „alles was gesagt wird wird ständig zurückgenommen, […] alles was gesagt wird existiert nur im Bereich des Möglichen, […] löst sich immer wieder auf und nimmt neue Bedeutung an“. Ein solches Verfahren der DEKOMPOSITION, also „Zerlegung und Neuzusammensetzung“ beschreibt Mayröckers eigentümliche komplexe Technik einer textilen Montage. Es ist mithin ein offenes Verfahren, es gibt kein Ende, nur Erschöpfung, aber „es musz ja kein Ende haben, die Kompositionen von Morton Feldman haben auch kein Ende, nicht wahr“.

Friederike Mayröcker Und ich schüttelte einen Liebling
Beobachtungen, Eindrücke.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006.
240 S.; geb.
ISBN 3-518-41709-6.

Rezension vom 28.10.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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