#Lyrik

und fließt die zeit wie wasser wie wort

Christl Greller

// Rezension von Helmuth Schönauer

Zeit ist das größte Thema der Lyrik, manche behaupten sogar, dass Lyrik Zeit sei. Als Hauptdarsteller der Zeit in Gedichten dient immer der Vogel, weshalb dieser selbst nach seinem Aussterben noch in vielen aktuellen Gedichten vorkommt. Einen besonderen Zeit-Umgang hat seinerzeit Gerald Bisinger mit seinen Situationsgedichten gepflogen. Er schrieb Ort und Zeit eines Augenblicks auf und dazu noch etwas lyrischen Füllstoff, wie man ihn zum Auskleiden von Paketen verwendet.

Christl Greller pflegt die These, wonach Wörter Zeit sind und deshalb mit wechselnden Bedeutungen in einem eigenen Wortnetz abfließen wie Wasser. Der Autorin kommt dabei die Aufgabe einer Waal-Wärterin zu, indem sie diverse Steuerungsbolzen des semantischen Systems öffnet und schließt und so möglichst gerecht die Worte verteilt. Die Wörter machen zwischendurch, was sie wollen, aber sie gehorchen immerhin der Schwerkraft der Bedeutung.

Gut achtzig Gedichte fließen durch den Band und werden zu Bildern ausgeleitet, nämlich zu den Zeichnungen von Angelika Kaufmann. Darin sind Sinn-Pigmente zu Wellen aufgekräuselt, welche ein Motiv umspülen. Im Zentrum dieser Zeichnungen stehen etwa ein Baukran, ein Rock aus Laub, der die Hüften einer Herbstzeitlose bedeckt, oder ein kleines Eck einer Kirchenfassade, die demnächst von einem zeitlosen Gewächs überwuchert sein wird.

Die Gedichte tragen knappe Begriffe als Titel, die später im Register zu einem eigenen Gedicht geformt sind, worin sich wesentlichen Strukturen der Gesellschaft erkennen lassen: Apokalypse, unscharfe Stunden, Patchwork, im Sumpf, Probearbeit, am Bahnhof, die Rückseite der Fassade, im Stadtbeton, eigene Wege.

Mit einem Schlagwort als Aufmacher setzen die Gedichte plötzlich ein und weisen darauf hin, dass jedes Gedicht schon längere Zeit wie ein Myzel unterwegs ist, ehe es jetzt als lyrischer Ballen auf der Oberfläche einer Jahreszeit zu liegen kommt. So zeigen Eingangsfügungen wie „und dann“, „und plötzlich“, „jetzt“, dass es eine Vorgeschichte gibt, ehe das Gedicht in voller Spannung losbricht. Die Situation setzt unmittelbar ein, mutiert zu einem Standbild, verzögert sich, steuert auf ein Fade out zu oder fährt generell den Zeitfluss herunter. Mustergültig nachzulesen ist diese Verlangsamung im Gedicht „die zärtlichkeit der zeitlupe“ (51), worin ein Spiegel sich dreht und wie eine Kaskade aus Wasser in sich zusammenfällt nach einer geheimnisvollen Choreographie.

Urbane Motive und Elemente der Natur reagieren naturgemäß verschieden auf den Zeitfluss – was im einen Fall Kreislauf des Jahres bedeutet, nennt sich im Angesicht von Stadtbeton Verfall, Niedergang, Devastierung. Nicht nur standortfeste Gedichte des lyrischen Ichs unterliegen einem Stadt-Landgefälle, auch die sogenannten Reise-Gedichte sind vom Zeitlauf geprägt. Das beobachtende Auge sieht aber nur einen jahreszeitlichen Augenblick und muss den Rest vermuten. So sind etwa die „störche litauens“ (34) besonders fruchtbar, weil sie im fruchtigen Ambiente eines grünen Straßenrandes sitzen. Die gleiche Situation in einem frostigen Winter würde aus dem leichten Reisegedicht vermutlich eine verfrorene Finsternis machen. Denn Litauen kann auch sehr kalt und dunkel sein.

Das Fremdenzimmer, das in manchen Landstrichen wegen der hemmungslosen Zimmervermietung ganze Jahrgänge verschreckt hat, wird in diesem Falle zu einer Hör-Oase. Ein fremdes Ich ist in das Zimmer eingedrungen und hört fremdes Wasserrauschen, anonyme Wasserrohre, seltsame Geräusche, die nur mit Mühe dem Abfluss von Zeit zugeordnet werden können.

In einem Nachspann sind Monatsgedichte als „Gesichter einer Stadt“ für eine Hörfunksession ausformuliert. Dabei werden die einzelnen Monate durch die Ergänzung „Wien“ zu einem besonderen Ereignis, das fast wieder an eine Bisingersche Lyriksituation herankommt. „wienMAI // jetzt fahnen! / roter rathausplatz / wie immer.“ (98)

Christl Greller und fließt die zeit wie wasser wie wort
Gedichte.
Mit Zeichnungen von Angelika Kaufmann.
Oberwart: edition lex liszt, 2018.
107 S.; brosch.
ISBN 978-3-99016-145-6.

Rezension vom 01.06.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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