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#Prosa

Und alle winkten

Bruno Schernhammer

// Rezension von Ursula Seeber

Wie der Atlantikwall oder die Flaktürme zählt die „Reichsautobahn“ zu jenen Stein und Beton gewordenen „bösen Orten“ des Dritten Reiches, an denen sich Geschichte und Geschichten, Erinnerung und Deutung manifestieren. Auch in der damaligen „Ostmark“ funktionierte dieser Mythos, denn von 1938 bis zum Winter 1941/42 wurde von Salzburg ostwärts der Bau der „Reichsautobahn“ vorangetrieben. Heute verläuft ein Großteil der wichtigsten österreichischen Autobahn A1 entlang dieser Trasse. Auch diese erlangte Symbolcharakter und wurde nach 1945 ein Teil offizieller österreichischer Selbstinszenierung.

Angeregt durch ein Foto forscht der Ich-Erzähler, der in den 1960er Jahren unter einer dieser Brücken in Oberösterreich aufgewachsen ist, dem Schicksal des Bauwerks nach. Den historischen Rahmen bildet der gigantische Aufwand für das letztlich gescheiterte Unternehmen „Reichsautobahn“. Propagandistisch hoch aufgeladen, schmückten sich damit viele, von der NS-Führung bis zum kleinen Provinzpolitiker. Radioübertragungen von Spatenstichen, Brückeneinweihungen und Geschwindigkeitsrekorden im dramatischen Sprechterton, begleitet von zackigen NS-Liedern, verfehlen nicht ihre Wirkung auf die jungen Menschen des Tales, die davon träumen, dass die Autobahn eines Tages wirklich zu ihnen kommt.

Bruno Schernhammer fördert den Untergrund einer kontaminierten Landschaft zutage, über die im wahrsten Sinn „Gras gewachsen“ ist. Er erzählt von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, von lebensvernichtenden Arbeitsbedingungen in den Lagern, von Widerstandsversuchen und Zivilcourage. Der Text gründet auf intensivem Quellenstudium, ist aber keine Dokumentation. Dem Autor ist es gelungen, aus dem dürren Substrat von Zeitungsmeldungen, Dorfchroniken, Bestandslisten und Protokollen lebensvolle Figuren zu entwickeln, die einen Namen, einen Charakter, eine Biografie haben, wie der mutige Pole Stanislaw mit seinem sarkastischen Humor.

Über dem Geschehen steht Gwowa Olbschema, eine an einen Riesenkopf erinnernde Steinformation im nahen Gebirge. Als allwissender und überzeitlicher Zeuge beobachtet diese Kunstfigur das Geschehen, kommentiert nicht, sieht nur.

Nicht zuletzt geht es in diesem Roman auch um das Aufwachsen in der österreichischen Provinz in den Sixities und Seventies. Freundschaften, Mopeds und Rockmusik sind die Ingredienzien einer Utopie vom Leben außerhalb der Herkunftswelt. Der Ich-Erzähler nimmt schlussendlich den Weg in die Großstadt über die Autobahnbrücke seiner Kindheit: „We Gotta Get out of This Place“.

Der Autor erzählt nicht chronologisch, sondern montiert die Episoden an ihren Drehpunkten zu einer neuen Ordnung. Durch dieses literarische Verfahren wird Spannung und Retardierung erzeugt, zugleich treten die historischen und politischen Zusammenhänge umso deutlicher hervor.

Bruno Schernhammer betreibt mit seinem Buch eine besondere Art der „Heimatkunde“. Er legt dar, dass Beheimatung nur dort möglich ist, wo es Erzähler gibt, die vom lange Verdrängten und Totgeschwiegenen berichten.

Und alle winkten. Im Schatten der Autobahn.
Roman.
Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, 2018.
216 Seiten, broschiert.
ISBN 978-3-901602-74-0.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 15.05.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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