#Prosa

Und alle Lieben leben

Hans Eichhorn

// Rezension von Lydia Haider

„Zwei Personen, zusammengeschweißt für den Moment, der zeitlos ist“: Es sind Vater und Kind, deren Zusammenleben, ihr Alltag und ihre Zwietracht beschrieben werden. Gleichzeitig ist Und alle Lieben leben die Geschichte einer Krankheit – im Text implizit dargestellt und lediglich einmal direkt benannt: „Zweimal der Traum von der Verwurzelung. Du reißt das Wurzelwerk aus dir heraus. Aber dieses Wurzelwerk bist du. Du siehst dich mit dem herausgerissenen Wurzelwerk selbst an und hast keine Ahnung, was das bedeuten soll. Papa, du hast Krebs, weil du Krebs haben willst, sagt das Kind. Richtig! Oder falsch?“

Diese Krankheit verändert nun die Sichtweisen, die Gleichförmigkeit, das gesamte Leben. Eine Besonderheit des Textes ist, dass sich die Beschreibungen der inneren und äußeren Lebenswelt dieser zwei Personen, die „wie zufällig zusammengewürfelt“ das Haus, ihr „Gehäuse“, teilen, nicht zu einem Erzähltext im gewohnten Sinn zusammenfügen: Wer auf der Suche nach einem mitreißenden Plot ist, wird hier nicht fündig werden. Vielmehr ist die Sprache selbst das Zentrum des Textes und als sprachspielerischer Wirbel, der von Chronologie oder Durchsichtigkeit nicht viel hält, zu verstehen. Mit vielen inhaltlichen und perspektivischen Sprüngen, wie zufälligen Einschüben von Erinnerungen („Die Erinnerung klappt ihr Fensterchen auf, wo und wann sie will“), einem nur fragmentarischen Umreißen der Personen, undurchsichtigen Metaphern und im Stil des unzuverlässigen Erzählens, wird ein diffuses und verworrenes Bild gezeichnet, das so die Existenz bedrohende Situation des Vaters und ihre psychischen Folgen auf sprachlicher Ebene widerspiegelt.

„Eine poetische Reise durch den Alltag des Lebens, voller kleiner Nadelstiche“ – so der Versuch, den Inhalt als Klappentext zu umreißen. In einem Radiointerview definiert Eichhorn diese Nadelstiche als Grenzsituationen existenzieller Art, die im Text zum Ausdruck kommen. Dargestellt wird ein körperliches und seelisches An-die-Grenze-Kommen, Grenzerfahrungen des Körperlichen in der Krankheit und der Chemotherapie sollen in Sprache transformiert werden.
Erzähltechnisch handelt es sich um eine Art inneren Monolog oder sogar Bewusstseinsstrom, der jedoch nicht einheitlich aus einer Perspektive berichtet, sondern sprunghaft bis zuletzt wechselt.

Die Erzählung beginnt mit der Beschreibung eines namenlosen Mannes, nur mit ER benannt. Bald schon findet ein Wechsel in die Innenperspektive statt, aber nicht wie gewohnt schildert ein Ich das Seelenleben, sondern die innere Rede wird an ein äußeres und auch inneres Du gerichtet: an das Kind und an sich selbst. In diesem Sinne könnte von einem inneren Monolog/Dialog in Du-Form gesprochen werden – was eine ungewöhnliche Ambivalenz ergibt: Das Du, womit häufig das Kind angesprochen wird, ist jedoch auch an sich selbst gerichtet, aber es können auch andere (unbekannte) Personen im Text gemeint sein oder gleichzeitig die Lesenden ansprechen.
Direkte Reden befinden sich im Fließtext und sind nicht oder erschwert vom Erzählten zu unterscheiden, was die perspektivischen Wechsel noch schwerer erkennbar macht – jedoch nicht wesentlich scheint: Die Grenzen zwischen Innen und Außen lösen sich auf, vielmehr soll ein Gebäude aus Bildern und Gefühlen entstehen, das zeigt, dass die Lieben, seien es Menschen, Dinge oder Erinnerungen, sowohl innen als auch außen verortbar sind.

Als „langen Versuch einer poetischen Verfahrensweise eines Gebets oder eines Gedichtes“ beschreibt Eichhorn selbst im bereits genannten Interview seinen Prosatext. Der Bezug zum Gebet und der Religion ist unverkennbar an entsprechendem religiösen Vokabular oder vielen indirekten Hinweisen ablesbar. Zugleich kommt zwischenzeitlich auch eine gewisse anti-metaphysische Haltung zum Tragen, wie in der sarkastischen Erkenntnis: „Die Klotür ist eine Klotür, sonst nichts, der Fernsehtisch ist der Fernsehtisch, sonst nichts, der Geschirrspüler spült Geschirr, die Plafonddecke ist gut, aber sicher nicht optimal isoliert. So wird die Winterkälte in Schach gehalten, und der 21. Dezember ist der 21. Dezember.“

Der Titel – entnommen aus dem Gedicht An den Morgen von Peter Handke, das Eichhorn auch als Motto dem Text voran stellt – ist nicht die einzige Verbindung zu Handke, auch an Stil und Inhalt sind Parallelen erkennbar: Vom begrenzten und konzentrierten Blick vom Inneren eines Hauses aus werden das Haus selbst, die Personen darin, die „Lieben“, der Garten oder die umliegende Landschaft be- und umschrieben und Erinnerungen ausgebreitet, der erzählte Raum konzentriert sich auf die „kleinen“ Dinge, auf die präzise Darstellung des Alltäglichen, was Eichhorns Text auch mit den Erzählungen Adalbert Stifters in Verbindung bringt.

Der Gesamttext wird von vielen kürzeren Kapiteln untergliedert, hervorgehoben wird der Beginn eines neuen Abschnitts durch ein grafisches Element: Der erste Satz oder Satzteil ist in Großbuchstaben gedruckt. Diese Kapitelgliederung spiegelt die Schreib- und Produktionsweise Eichhorns, ein bürokratisches Verfahren, wie er selbst es nennt, denn er zwingt sich, ein bestimmtes Pensum zu produzieren, was auch oft im Text selbst thematisiert wird: „[…] wie so oft, habe ich nichts zu sagen, aber ich habe das wackere Vertrauen, es wird sich schon etwas zur Sprache bringen.“

Die Schrift, die Worte, der „hohe Rang der Wörter“, sind nicht nur in der Beschreibung des Schaffensprozesses Gegenstand der Erzählung, sondern auch Mittel zur Bewältigung der Krankheit. „Alle Erlösungsgewalt den Buchstaben!“ Diesem Aufruf und Anspruch wird Eichhorn in Und alle Liebe leben unmittelbar selbst gerecht, indem er in der Lebens- und Leidensgeschichte vorführt, wie konkret das aussehen könnte: „Die Worte als die Streicheleinheiten Tag und Nacht das Einatmen, das Ausatmen, der Stoffwechsel.“

Hans Eichhorn Und alle Lieben leben
Erzählung.
Wien: Residenz, 2013.
144 S.; geb.
ISBN 9783701716081.

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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