#Roman

Umarmung

Lydia Mischkulnig

// Rezension von Iris Denneler

Ein abendliches Zimmer. Ein Buch (Kantorowicz „The King’s Two Bodies“). Eine Leserin. Und das Läuten der Glocke läßt sich nicht überhören. Damit beginnt eine Geschichte, die keine Geschichte sein will, keine sein kann, weil es zu viele Alternativen gibt. So entfaltet sich ein Erzählen ohne jenes „primitiv Epische“, das Ulrich im „Mann ohne Eigenschaften“ einmal als das einfache Gesetz bezeichnet hat, das sagt, „als das geschehen war, hat sich jenes ereignet“.

Zwei Personen, LM und die Erzählerin, suchen eine Romanfigur: Agathe. Doch die ist so tot wie lebendig. Deshalb ist Schluß; mit der Erzählsyntax ebenso wie mit der Haltbarkeit von Figuren, Identität, Handlung. Dafür werden die Grenzen zwischen persona ficta und non ficta ausgelotet, LM ein ‚Leben‘ zugemutet, das ihre Wieder- und Doppelgängerin nicht haben will: „Ich hätte wahnsinnig gern eine Zigarette. Während ich mich einschreibe, umschreibe, beschreibe, abschreibe, stelle ich fest, daß ich schon richtig unterschreibe, schreibe LM“.

Lydia Mischkulnig erprobt Biographien als Spielmöglichkeiten. Ist die eine bourgeoise, demonstriert die andere lautstark dagegen, haßt die eine Zigarettenqualm, ist die andere Kettenraucherin. Dabei sind „wir wie ein Paar, manchmal wie Mann und Frau“, immer damit beschäftigt, den Agathe-Roman zu schreiben. Agathe, der Guten, Trefflichen, wird jener Rest an Phantasien zugeschoben – mörderisch, tödlich, selbstmörderisch – den beide Doppelfiguren nicht tragen mögen. Dagegen rebelliert sie, gibt sich nicht damit zufrieden, bloß Romanfigur zu sein.

Agathe drängt, wie alle Protagonisten, ins ‚richtige‘ Leben, verwickelt sich in Geschichte und Geschichten. Eine davon handelt von der Lebensgemeinschaft der Erzählerin mit Roger, der wohl auch Liebhaber von LM war, jedoch von Agathe ein Kind besitzt (Mascha), das er nun mit der Ich-Figur aufzieht. Man fährt in Urlaub nach Rom, LM ist auch dabei; die beiden Frauen auf der Suche nach der Agathe-Geschichte, gestört von Gebell, und damit zugleich in einer weiteren, der Bachmann Welt, gefangen (wie ja von Anfang an der Roman ein Roman über den Roman von Kantorowicz war). Man trifft Giorgio, der wiederum Roger sein könnte, welcher für LM seinen eigenen Doppelgänger spielt. So lebt man in Wien, Rom und anderswo zu dritt (oder viert? oder fünft?) zusammen, heimgesucht von der künstlichen Agathe, die bisweilen sehr gereizt auf erzählerische Übergriffe reagieren kann. Überall fremdes Terrain: „Ich könnte Agathe betreten, dachte ich, und das tat ich auch. Ich stieg in sie ein. Zuerst hob ich mein rechtes Bein und schlüpfte in ihre Haut… Augenblicklich fühlte ich wie Agathe, und ihr Gefühl fiel mit meinem Gefühl zusammen“, lesen wir zu Beginn des Romans. Später führt die Erzählerin Roger ein Kleid vor; Second Hand natürlich. „Ich bin eben in einer von mir geschaffenen künstlichen Persönlichkeit“, versucht sie sich zu entschuldigen, „werde mich aus dem Kokon metamophorisieren und alle Rätsel überfliegen“. Manchmal hilft auch nur, den Stecker aus der Dose zu ziehen und das ganze Theater ist entzaubert.

Noch ist es dafür zu früh. Man liest, diskutiert, liebt sich, trennt sich, weint und versöhnt sich – und immer werden es nur Teile sein jener Versuchsanordnung, die eine so allmächtige wie hilflose Schöpferin ausbreitet. Denn am Ende ihrer Kreationen, in denen es ihr immer wieder gelingt, Figuren in Situationen zu verwickeln, sie agieren zu lassen, muß auch sie erkennen: alles schon dagewesen, alles erlesen. Bereits auf den ersten Seiten zerbricht die Selbstsicherheit des Ich-Sagens und Erzählens: Betätigt sich die Erzählerin zunächst noch als Arrangeurin, so muß sie bald erkennen, daß auch sie ein Geschöpf, also mit einer höheren Instanz verkettet ist: Mit Gott? Mit der Autorin Lydia Mischkulnig? Und diese selbst? Am Anfang war das Wort.

Ist das nun ein Spiel mit weiblichen Identitäten, wie der Umschlag verspricht? Glücklicherweise nein. Zu wenig für diesen ‚Roman‘, der auch das männliche Andere erprobt, dazu ein Klischee, das auf das falsche Publikum zielt. Hier sind nicht Feministinnen, sondern Leserinnen und Leser von Buchstaben und Wörtern gefragt. Mischkulnigs Stimmengewirr ist ein Weltbuch, Ichbuch, Experimentierbuch. Ein großes Rätsel um das Geheimnis der Person, die sich entzieht und den Zugang zum Innersten versperrt, die sich selbst nicht zu (er)lösen vermag, aber die Lösung kennt: Erzählen. Dazu braucht es nichts als Sprache und die Freiheit der Imagination. Das ist viel, das ist alles. Und unendlich schwierig. „Vielleicht finde ich Agathe und ihre Geschichte“, heißt es deshalb vorbehaltlich. Vielleicht weiß Pirandello die Antwort. Und wir? Wir sind gebannt von den unerschöpflichen Phantasien, Tagträumereien, literarischen Reminiszenzen, Wunsch(auto)biographien.

Wohl beschleicht einen bisweilen die Angst, daß dieses ständige Spiel mit Meta-Ebenen, Metaphern und Metamorphosen nicht tragen könnte, nicht über dreihundert Seiten. Doch dann fesselt der Klang, die Fabulierlust, die genauen Erkundungen des so banalen, lächerlichen wie tragischen Lebens. Und weil dieses Spiel so plastisch, so elegant und geistreich unsere Lust am Lesen fördert, gleicht die Lektüre einem erfrischenden Bad im Wörtersee. Eine schöne Anstrengung. Wenn am Ende die Umarmungen wieder gelöst sind, das Erzählte zurückgespult und Agathe „abgeschrieben“ ist, dann erlischt auch die Kerze, mit der die Erzählerin einst ihr abendliches Zimmer erhellte. Agathe liegt sicher im Schrankraum. LM fehlt. Der Roman bleibt. So sind die Märchen, die das Leben schrieb.

Lydia Mischkulnig Umarmung
Roman.
Innsbruck: Haymon, 2002.
270 S.; geb.
ISBN 3-421-05182-8.

Rezension vom 27.11.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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