#Prosa

Übertreibungen in Richtung Wahrheit

Günther Anders

// Rezension von Helmut Sturm

Anders‘ Eltern, die bekannten Psychologen Clara und William Stern haben ihre Kinder als Studienobjekte für zahlreiche wissenschaftliche Publikationen benützt, was die Theorie entstehen ließ, dass der Junge sich von dieser wissenschaftlichen Instrumentalisierung und vom Vaternamen emanzipieren musste und so den Namen Anders gewählt hat. Am 12. Juli wäre der vor zehn Jahren verstorbene Günther Anders hundert Jahre alt geworden. Fast fünfzig Jahre lebte der aus dem amerikanischen Exil nach Europa zurückgekehrte Schriftsteller in Wien, wo man ihn im Frühsommer mit einem Symposium und verschiedenen Veranstaltungen ehrt.

Für viele ist Günther Anders als „Atomphilosoph“ in Erinnerung, der mit dem ersten Band seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Technik ,“Die Antiquiertheit des Menschen“, und seinem „Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly“ die internationale Anti-Atombewegung verstärkte. Auch sein „prometheisches Gefälle“, das die Kluft zwischen dem, was Menschen herstellen und anstellen, und dem, was sie vorstellen und mitfühlen können, meint, ist heute weit diskutiert. Ludger Lütkehaus, neben Konrad Paul Liessmann der bekannteste Anders-Spezialist, hat ein Lesebuch vorgelegt, das Günther Anders als einen sehr vielschichtigen Philosophen zeigt, der nicht nur bereits in den dreißiger Jahren die Sartresche Position, wonach wir zur Freiheit verurteilt sein sollen, vorweggenommen hat, sondern auch Wegbereiter für Fragen nach dem Verhältnis von Zentrum – Peripherie und für die Frage nach der Identität des Menschen in einer multimedialen, hochtechnisierten und von Maschinen bestimmten Welt war.

Anders Blick ist verstörend nüchtern, es bleibt nichts mehr, woran wir uns festhalten könnten, die Aussichten sind nicht gerade hoffnungsvoll und dennoch plädiert er für „eine ’schizophrene‘ Haltung, nach der wir trotz des drohenden Weltverlustes und der Erkenntnis unserer Unfähigkeit, diesen aufzuhalten, für den Erhalt der Welt kämpfen sollen“ (Elke Schubert). Überhaupt ist das Paradoxe eine Anders’sche Spezialität. Lütkehaus sieht in ihm den „freimütigen Nihilisten in Personalunion mit dem praktischen Antinihilisten“. Ein Beispiel: „Treue. Was wir gewöhnlich so nennen, läuft fast immer auf Bequemlichkeit heraus. Es gibt nur weniges, was so schwerer erlernbar wäre wie die Treuelosigkeit. Am schwersten zu erlernen ist es aber, der Treulosigkeit treu zu bleiben.“

Anders war kein akademischer Philosoph, einen Lehrstuhl in Halle hat er ebenso abgelehnt wie die Ehrendoktorwürde in Wien. Er war überhaupt nicht nur Philosoph. Er war Kultur-, Literatur- und Kunstkritiker, Musikphilosoph, Aphoristiker und begabter Erzähler. Die Anthologie „Übertreibungen in Richtung Wahrheit“ macht diese Vielfalt gut deutlich. Im Vorwort wird das Ziel als ein doppeltes genannt: „alte Anders-Leser zu erinnern, neue zu gewinnen“. Das erste erreicht die Sammlung bestimmt, das zweite ist ihr zu wünschen.

Günther Anders Übertreibungen in Richtung Wahrheit
Stenogramme, Glossen, Aphorismen.
Hg. u. mit einem Vorwort v. Ludger Lütkehaus.
München: C.H. Beck, 2002.
184 S.; brosch.
ISBN 3-406-47612-0.

Rezension vom 02.06.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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