#Sachbuch

Überleben in Freundschaft. Thomas Bernhard / Jacques Derrida

Michael Baum

// Rezension von Martin Sexl

Michael Baum, der an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik lehrt, bringt in diesem Buch zwei Denker in Beziehung zueinander, die in keiner direkten Verbindung stehen und mit den beiden Büchern, die zur Disposition stehen (Derridas „Politik der Freundschaft“ und Bernhards „Wittgensteins Neffe – Eine Freundschaft“) aus zwei unterschiedlichen Feldern stammen.

Baum wendet ob dieser mangelnden Vergleichsgrundlage – konsequenterweise, möchte man sagen – eine dekonstruktiv performative Lektürestrategie an, um in Beziehung setzen zu können, was noch nicht in Beziehung steht. Dass beide Texte für sich bereits zutiefst paradoxal sind, was eine philosophische Untersuchung – auch wenn sie sich bewusst als „Essay“ deklariert, Ansprüche an Kohärenz und Systematik also zurückgeschraubt werden – noch zusätzlich erschwert, bietet für Baum die Möglichkeit eines vorsichtigen Vergleichs, denn „[b]eide, Bernhard und Derrida, kommen in gewisser Weise zu dem Schluss, dass Freundschaft [wie auch das Reden darüber, wie man anfügen möchte] unmöglich und notwendig zugleich ist“ (S. 14). Da eines der zentralsten Momente von Derridas Philosophie in der Befragung der Sprache (und deren Verhältnis zur Schrift) liegt, können die sprachlichen Beziehungen zwischen den beiden Texten auch ins Licht gerückt bzw. – so der Autor – „gesponnen“ werden (S. 18). Und mit der Metapher des „Spinnens eines textilen Gewebes“ ist auch der dekonstruktive Gestus und das Ziel des schmalen Büchleins wohl am ehesten umrissen: Es geht Baum um eine Lektüre, durch die in seinem Essay die beiden Texte performativ werden sollen und können, um Leserinnen und Leser solchermaßen, man möge das Banale der Formulierung verzeihen, zum Quer- und Weiterdenken anzuregen. Dies ist Baum auch zweifellos gelungen, da er nicht nur die Freundschaft (als Phänomen), sondern auch die beiden behandelten Texte tendenziell als Ausgangspunkt performativer Lektüren und nicht als Untersuchungsobjekt behandelt.
Baum rückt einen wesentlichen Punkt des Buches von Derrida ins Zentrum, nämlich die paradoxale Tatsache, dass es in der Thematisierung der Freundschaft immer auch um die Frage des Überlebens und des Sterbens geht (also auch um eine Freundschaft zu den Toten) – und dass dieser Zusammenhang mit dem literarischen Schreiben aufs Engste verknüpft ist. „Die Instanz, in der sich Tod, Literatur und Überleben in (Freundschaft) kreuzen, ist die Schrift“ (S. 23), die – so muss man weiter ausführen – mit den Begriffen der „Spur“ und der „Differenz“ in der Philosophie Derridas unauflöslich verbunden ist. Dass es Baum dabei nicht um den klassischen Freundschaftsbegriff geht, der als eine „Bejahung der freundschaftlichen Symbiose“ (S. 60) verstanden werden kann, ist daher nur folgerichtig. (Und dass mit den Themen Leben als Überleben und Sterben klarerweise auch ein wesentliches Charakteristikum des Buches von Thomas Bernhard angesprochen ist – wenn man nur an die Geschichte der Krankheit des Ich-Erzählers und seines Freundes Paul Wittgensteins oder an den Tod des Freundes denkt –, steht außer Frage.)
So wie Derrida die Differenz als letztlich unauflöslich beschreibt, ist auch in Bernhards Poetologie alle Vermittlung aufgehoben (S. 37). Baums Essay wird so zu einer (mehr oder weniger impliziten) Reflexion über den Stellenwert der Literatur (als „écriture“): Auch wenn es an der textuellen Oberfläche um das Phänomen der Freundschaft geht, so ist zentrales Moment unter der Oberfläche das Schreiben über Freundschaft, nicht nur bei Derrida und Bernhard, sondern auch bei den Klassikern des Diskurses über die Freundschaft, etwa bei Aristoteles, Cicero, Montaigne oder Kracauer. Dass Bernhard dabei zutiefst ironisch ist, ist Baum natürlich klar. Die Thematisierung der Tatsache, dass auch Derridas Schreiben – wie poststrukturalistische Schreibweisen immer – ironisch sein muss, rückt bei Baum (bewusst?) an den Rand, wobei ihm keineswegs unterstellt werden darf, dass er von einer philosophischen Überbietung des literarischen Diskurses (im Namen der Rationalität wissenschaftlichen Schreibens) ausgehen würde.

Einige sprachliche Eigenheiten von Baum, die man als postmodern charakterisieren könnte und stellenweise etwas seltsam wirken, sieht man Baum gerne nach: So ist die Rede vom „Ich-Schreiber“ anstatt des „Ich-Erzählers“ zwar lektüreerschwerend, aber doch konsequent; auch die Verwendung von gewohnten ‚Floskeln der Postmoderne‘ – „obwohl zweifellos viel auf dem Spiel steht“ (S. 83), „die aus schweigender Schrift besteht, die sich wie ein rauschender Mantel über uns legt“ (S. 84), „die ungeheuerlichen Paradoxien der Freundschaft“ (S. 90), „[d]ie Spur widersteht dem Nichts“ (S. 24) – oder auch die seltsam abgelöst wirkenden beiden Seiten am Ende des Buches mit dekontextualisierten Aphorismen, die als „Matrix“ von „Denkfiguren“ vorgestellt werden, können die Lektüre nicht wirklich beeinträchtigen, zumal sie ohnehin eine Erwartungshaltung gegenüber dekonstruktiven Lektüren bestätigen.
Weit problematischer allerdings ist, dass Baum zwar das Thema „Freundschaft in ihrer politischen Dimension“ an der einen oder anderen Stelle anreißt, einen wesentlichen Aspekt von Derridas Text allerdings marginalisiert, nämlich die Tatsache, dass es Derrida in „Politik der Freundschaft“ in einer ganz zentralen Form um die Frage der Gestaltung der Gesellschaft geht. Die individuellen Dimensionen der Freundschaft (als Beziehungsform) mögen zwar durchaus Ausgangspunkte der Reflexion Derridas über die Freundschaft sein, letztlich ist Freundschaft aber nicht nur Folie der Reflexion von Politik, sondern in ihrem Kern eine politische Kategorie, bei der es nicht mehr um Beziehung als individuelle Lebensform alleine geht, sondern um mehr: nämlich um die Frage der Demokratie und des Staates. Natürlich kann es, so Derrida, „[k]eine Demokratie ohne Achtung vor der irreduziblen Singularität und Alterität“ – also vor dem individuellen Subjekt – geben (in der stw-Ausgabe des Suhrkamp-Verlages von 2002, S. 47), aber entscheidend für Derrida ist vielmehr jener gesellschaftspolitische Aspekt der Freundschaft, der erst dann deutlich wird, wenn man ihn anderen Denkfiguren politischen Denkens innerhalb des Demokratiediskurses gegenüberstellt, etwa dem Begriff der „fraternité“, der Brüderlichkeit. Der Begriff der Brüderlichkeit ruft Assoziationen von Verwandtschaft (und damit von Abstammung, Herkunft, Geburt, Familie, Volkszughörigkeit etc.) hervor, und Derrida erinnert daran, dass „[a]lle Politiken, alle politischen Diskurse, die sich auf ‚Geburt‘ und ‚Abstammung‘ berufen, […] Mißbrauch mit dem [treiben], was nur ein in diese gesetzter Glaube sein kann, manche würden von einem bloßen Glauben, andere von einem Glaubensakt sprechen. Alles, was innerhalb des politischen Diskurses auf die Geburt, die Natur oder die Nation sich beruft – ja selbst auf die Nationen oder die universale Nation der menschlichen Brüderlichkeit –, dieser ganze Familiarismus besteht in einer Renaturalisierung jener ‚Fiktion‘.“ (Ebd. S. 138) Mit dem Begriff der Renaturalisierung benennt Derrida das Zentrum der Bedrohung durch Diskurse der „Geburt“ und der „Abstammung“: Was als natürlich wahrgenommen wird (wie Verwandtschaftsverhältnisse oder Volkszugehörigkeit) ist der Gestaltung – und damit der Politik – auf Dauer entzogen. Gegen diese (Re-)Naturalisierung bezieht Derrida mit dem Begriff der Freundschaft Stellung, denn Freundschaften sind gestaltbar, Herkunft und Geburt sind es nicht. Und das hätte doch auch Gegenstand eines Buches sein sollen, in dem Derridas „Politik der Freundschaft“ eine wichtige Rolle spielt, zumal man damit auch die politische Dimension des Schreibens von Thomas Bernhard deutlicher zuspitzen hätte können.

Michael Baum Überleben in Freundschaft. Thomas Bernhard / Jacques Derrida
Sachbuch.
Wien: Passagen Verlag, 2011.
117 S.; brosch.
ISBN 978-3-85165-985-6.

Rezension vom 19.12.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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