Nun ist aber dieses Buch nicht von Handke so verfasst; nicht Handke schreibt über Musik, sondern der Grazer Germanist Gerhard Melzer sammelt einschlägige Textausschnitte aus dem Werk wie auch aus Briefen, Gesprächen, Interviews. Das ergibt ein hübsches Kompendium, in dem man gerne blättert, ein Nachtkästchen- und „coffee table“-Buch, man liest hier und da an und entdeckt oder findet sich bestätigt in der Erfahrung, dass Handke unvergleichlich schreiben kann, wenn es um die Stimmigkeit von Momenten geht, das „Da!-und-Vorbei!“ von Wahrnehmungen („Mein Jahr in der Niemandsbucht“).
Nach einer Weile des Blätterns und Lesens stellt sich aber Ratlosigkeit ein. Da stehen widersprüchliche Aussagen aus verschiedenen Jahrzehnten unkommentiert nebeneinander, und die Gewichtung der Aussagen bleibt unklar – ist das jetzt so dahingesagt, probeweise formuliert, oder sind das Aussagen letzter Hand? Das „Singen des Schilfs“ (in einem Brief an die Mutter aus dem Jahr 1962) und der „innige Klagegesang“ aus dem „Bildverlust“ (2002) zeigen eher wahrnehmungsorientierte als musikalische Konstanten und sind in ihrer Intensität zuerst einmal Darstellungen der höchsten Kunst des sprachlich Möglichen. Handkes homogene Vorstellungsgestaltung arbeitet mit ihren Satzkadenzen effizient und eindrucksvoll auf die Identität der Bilder von Empfindung und nachgestellter Imagination hin, gerade auch dort, wo sie eingebettet sind in seine manchmal misanthropische Attitude – als ob es misslauniger Tönung bedürfte, um den singulären Bildern Schlichtheit, Noblesse und Leuchtkraft zu verleihen.
Nun muss man fairerweise festhalten: Tatsächlich suggeriert der Titel einen von Handke nie angestrebten Anspruch repräsentativer Aussage, und die zugunsten thematischer Felder auf Chronologie verzichtende Anlage des Buches tut ein Übriges zur Verwirrung. Dennoch langt man als Leser bei dem eher ratlosen Eindruck an: Handke versteht von Musik tatsächlich so wenig wie vor ihm etwa ein Goethe. Diesem galt in der Musik bekanntlich auch nur, was dem Primat des Textes nicht in die Quere kam – Schubert’sche Gefühlsdramatik nein, Zelters textuntermalende Bravheit ja. Der Gedanke an eine Autonomie der Musik war ihm fremd, das Musikalische als Probehandeln und Beziehungsmodell innerhalb einer alternativen Semantik akustischer Formen unzugänglich und unbekannt. Handke scheint nun in der Musik einerseits einem Geborgenheitstopos – einem „rundum wohlige(n) Gefühl“ – des Hinterzimmers mit der Jukebox hingegeben, andererseits in Verwandtschaft zur Cage’schen Negation von Ausdruck zu stehen, dies allerdings weniger witzig und unduldsamer als dieser: Stille ja, aber nur um herauszufinden, dass sie langweilt (Handke), oder es eine solche gar nicht gibt (Cage): Selbst im schalltoten Raum rauscht, nach einem Versuch Cages, das Blut, pocht das Herz, werden Körpergeräusche zur Artikulation, spricht etwas.
Nicht Klänge also, nicht die Sprache von Klängen ineinander, untereinander, nicht das Reagieren in Intervallen, nicht die Klärung von Ton- und Geräuschbeziehungen, nicht das Arbeiten in der anderen Struktur interessieren Handke, sondern er sucht in der Musik die Berührung an jene Essenz, um die es ihm in Malerei, Film und Poesie geht. Das Hervortreten einzelner Gefühlsartikulationen ist ihm immer wieder suspekt bis verpönt, gerät es doch augenblicklich in den Verdacht einer Wichtigmacherei gegenüber den Stimmen der Welt, dem Chor absichtsloser und damit „unschuldiger“ Geräusche (etwa in seiner Beschreibung des Bienensummens aus dem Felsspalt in der „Niemandsbucht“ oder dem Zikadengeräusch ebenda, also Phänomene, die die Wahrnehmung an sich ziehen). Musik sieht er demgegenüber als Verführung, Ablenkung, Übertretung in die falsche Richtung: Musik lasse „(schlecht) vergessen“, sei eine „ungehörige Übersetzung oder gar Überschreitung oder gar Verdrängung der Stille“ („Am Felsenfenster morgens“).
Um die Wahrnehmung der Wahrnehmung geht es aber auch Komponisten wie Cage und seinen Schülern oder jenen, die in der Webern-Nachfolge arbeiteten, mögen sie nun Feldmann heißen oder Cselsi, Nono, Rihm, Xenakis, Lachenmann, usf. Insofern zeigt dieser Band also auch die Grenzen der Handkeschen Wahrnehmungs-Wirklichkeit und hält Fragen offen wie: Ist ihm diese Musik zu komplex? Zu abstrakt? Erlaubt sie zu wenig Identifikation? Ist ihm die abstrakte Formsprache nicht zugänglich? Aus dieser Zitatsammlung lässt sich nur feststellen: In ihrer Suggestivität und in der Unmittelbarkeit ihrer Wirkung sind für Handke Aspekte der Musik immer wieder Irritation, vielleicht auch eine Art autonome, ihm nicht zugängliche Konkurrenz.
Handke sucht Unschuld und Demut, die Bescheidung und Aufhebung des Subjektiven, er findet sie im Akustischen als das offene, absichtslos strukturierte Naturgeräusch und in der Schlichtheit des bildhaften Songs. Daraus entsteht ein schmaler Kanon musikalischer Reduktion: Zikadengesang und Bienengesumm im Felsen, das „wie Donner fortdröhnende Innere der Jukebox“ („Langsame Heimkehr“) und die Stimmen der großen Sänger, aufgegangen im namenlosen Dasein: Dylon, Lennon, Van Morrison.
P.S.: Eine unbedingte Empfehlung ist Fabjan Hafners Beitrag zu Peter Handke in dem Sammelband „Sprachmusik“ (Hg. von Gerhard Melzer und Paul Pechmann, Sonderzahl Verlag 2003), der die formalen, ästhetischen und textlichen Referenzen Handkes auf einzelne Songs eindrucksvoll nachweist und belegt.