#Roman

Über die Verhältnisse

Barbara Frischmuth

// Rezension von Gianna Zocco

„Mich interessieren Lebensgeschichten. Nicht Geschichten, die das Leben schrieb.“ Mit diesem Satz beschreibt Barbara Frischmuth in der Ö1-Sendung „Menschenbilder“, die im Juli anlässlich ihres 70. Geburtstags zu hören war, ihr Grundinteresse am Schreiben. Sie präzisiert: „Geschichten also von und über Menschen, denen die Geschichte mitgespielt hat, ohne dass sie eine große Rolle in ihr gespielt hätten.“

Eignet sich dieser Satz als Beschreibung von Über die Verhältnisse, ihrem 1987 erstmals veröffentlichten und jetzt in einer Neuauflage erschienenen Roman? Zunächst sticht eine Abweichung vom obigen Zitat ins Auge: Einer der Protagonisten von Über die Verhältnisse ist der damalige Bundeskanzler Fred Sinowatz (1983-86), eine – so möchte man meinen – Person mit einer gewichtigen Rolle in der Geschichte. Und doch erscheint der Kanzler – im Roman als der „Chef“, der „Oberolympier“ bezeichnet – nicht als aktiv Geschichte gestaltende Persönlichkeit, sondern als ein von den – politischen, historischen, wirtschaftlichen, privaten – Ereignissen Getriebener, der immer wieder die engen Grenzen seines eigenen Spielraums zu spüren bekommt.

Die Formulierung „über die Verhältnisse leben“, die in gegenwärtigen Zusammenhängen vor allem an die Wirtschaftskrise, an das allgegenwärtige „Leben auf Pump“ denken lässt, ist in Barbara Frischmuths Buch eng verwoben mit der Darstellung des Einflusses von politischem Geschehen auf die Lebensrealität der einzelnen Personen. Im Mittelpunkt steht Mela, die – als Besitzerin des bei den Spitzenpolitikern der Landes beliebten Gasthauses Spanferkel – in direktem Kontakt mit den die Geschichte bestimmenden Kräften steht, ohne selbst eine aktive Rolle darin übernehmen zu wollen. Allerdings legt Mela viel Wert auf ihre Selbstständigkeit in privaten Dingen.
Mela ist eine selbstbewusste, aus Überzeugung alleinstehende Frau, die ihre Affären mit dem einen oder anderen meist politisch schwergewichtigen Stammkunden genießt; und sie hat ihre mittlerweile zwanzigjährige Tochter Frô – die, so Melas wohl gehütetes Geheimnis, ihrer einstigen Liebschaft mit dem „Chef“ höchstpersönlich entstammt – allein großgezogen. Doch was ist mit Frô? Zwar hat sie sich allem Anschein nach prächtig entwickelt, studiert Archäologie, hilft im Spanferkel aus, ist vernünftig und brav – doch in manchen Momenten erscheint sie Mela auf eine ihr unverständliche Weise fremd: Das stille, sensible, zurückgezogene Mädchen, das als Kind erzählte, dass es aus einem anderen Land stamme, hat so gar keine Ähnlichkeiten mit der lauten, energischen, selbstbewussten Mela und deren enger Freundin Borisch.

Und dann – nach 100 Seiten „Vorspiel“ – passiert es: Frô verliebt sich in einen zwanzig Jahre älteren, politisch einflussreichen Mann, heiratet diesen, ohne ihre Mutter darüber in Kenntnis zu setzen, und folgt ihm – ebenfalls heimlich – in die Türkei, wo ihr frischgebackener Ehemann in undurchsichtigen politischen Geschäften unterwegs ist. Für Mela ist Frôs Verhalten eine Katastrophe, ein Zeichen des Scheiterns ihrer liberalen Erziehung:
„Die alte Ordnung ist nicht mehr in Kraft, sagt sich Mela. Man braucht sich nur umzuschauen. Was findet denn statt in dieser Art von Umklammerung? Eine Wiederholung des Lebenskampfes innerhalb der eigenen vier Wände. Wer möchte das noch? Und ausgerechnet ihre eigene Tochter taumelt geradewegs in die Kleinfamilie? Pardauz! Da hat sie sich Frôs Schicksal aber anders ausgedacht.“ (S. 186) Und um „Frôs Schicksal“ zu retten, bricht sie nicht nur ihr Schweigen über Frôs Vater, sondern begibt sich auch – gemeinsam mit Borisch – zu einer „Unterweltreise“ in die Türkei.
Doch das ist nur die halbe Seite der Geschichte – und nur die halbe Wahrheit: Frischmuth beleuchtet auch die Perspektive Frôs und die der anderen Beteiligten – und zeigt gerade über diese konsequent durchgeführte Multiperspektivität wie uneindeutig und „kompliziert“ – im Sinowatz’schen Sinn – die Verhältnisse hier sind.
Frôs Sichtweise trägt vor allem dazu bei, den paradoxen Charakter von Melas Verhalten aufzuzeigen: Wie kann man seine Tochter einerseits im Geist von Freiheit, Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit erziehen, und andererseits verlangen, dass die Entscheidungen der Tochter zwar selbstbestimmt, aber auch in Übereinstimmung mit den eigenen Erwartungen sein sollen? Kann und soll man akzeptieren, dass die erste selbstbestimmte Entscheidung der Tochter gerade diejenige ist, sich in Abhängigkeit zu einem überlegenen Mann zu begeben? Und wie – wenn nicht auf extreme Weise – ist es für Frô möglich, angesichts einer derart präsenten, starken Mutter ihre eigene Identität, ihre eigenen Bedürfnisse, ihren eigenen Spielraum in der Geschichte zu entdecken?

Die Perspektiven der anderen Charaktere verbinden den zentralen Mutter-Tochter-Konflikt mit den größeren familiären, politischen und historischen Verhältnissen und zeigen, dass auch diese nicht (nur) so sind, wie sie zunächst scheinen.
Frôs Ehemann erscheint zwar als macht- und karrierebewusster Jungpolitiker, aber er ist jemand, der zwei Kulturen – die österreichische seines Vaters und die türkische seiner Mutter – kennen und verstehen gelernt hat, und dem dieses zusätzliche Wissen zu Reife und Erfahrung verhilft: „Im Grunde ging es weit über seine Verhältnisse, aus dem Kind die Komplizin seines Lebens und Sterbens zu machen. Er hatte sich etwas zugemutet, dessen Preis er nicht kannte, aber er war bereit, ihn zu zahlen. Auch das sah er, sah es aus der Entfernung der Klugheit, die die eine und die andere Seite, hüben und drüben, innen und außen kannte.“ (S.232)

Nicht nur Mela und der „Chef“, sondern auch die anderen Figuren des Buchs erleben das Leben als eine Abfolge von Situationen, in denen sich die Frage nach den eigenen Verhältnissen und Ansprüchen und nach den Widersprüchen, in denen diese zu den sonstigen Umständen stehen, immer wieder neu stellt. Es ist beeindruckend, dass Barbara Frischmuth diesen Leitgedanken auch in der sprachlichen Gestaltung umsetzt – in der Verwendung mythologischer Bezüge und in der Beschreibung der Politiker als äußerst menschliche Bewohner des Olymp, deren größte Gefährdung ihre eigene Selbstwahrnehmung ist. Der oft augenzwinkernde Tonfall hat zur Folge, dass die zeitgeschichtlichen Bezüge zur Waldheim-Affäre und zu anderen Konflikten vor allem indirekt präsent sind, während gleichzeitig deutlich wird, dass viele unserer aktuellen Probleme in ihrer Struktur denen vor 25 Jahren gleichen. Über die Verhältnisse erscheint als Roman, der über seine eigenen Verhältnisse hinausweist – und das vor allem deswegen, weil diese in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit dargestellt werden.
Eine lohnende (Wieder)-Entdeckung pünktlich zu Barbara Frischmuths 70. Geburtstag!

Barbara Frischmuth Über die Verhältnisse
Roman.
Berlin: Aufbau, 2011.
233 S.; brosch.
ISBN 978-3-7076-0252-4.

Rezension vom 29.08.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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