#Roman

Tschulie

Silvia Pistotnig

// Rezension von Veronika Hofeneder

Nach ihrem schon einige Zeit zurückliegenden Debüt Nachricht von Niemand (2010) legt Silvia Pistotnig nun mit Tschulie ihren zweiten Roman vor, auf den sich das Warten wahrlich gelohnt hat! Als LeserIn ist man ab der ersten Zeile sofort im Bann der rasant erzählten Geschichte um die gegensätzlichen Schicksale der sozial „weniger privilegierten“ (151) Tschulie, die mangels abgeschlossener Ausbildung im „Soli“ (kurz für Solarium) jobbt, und der wohlsituierten Mittvierzigerin Karin, deren grundlose Unzufriedenheit diesmal in eine veritable Midlife-Crisis abzudriften droht.

Ihren Traumberuf Malerin hat sie schon lange zugunsten eines langweiligen (dafür abgesicherten) Verwaltungsjobs verabschiedet, und während ihr Sohn endlich im Begriff ist, erwachsen zu werden, stellt ihr Freund mit seinem Kinderwunsch die Beziehung auf eine harte Probe: „Es war die Langeweile in ihrem Kopf, das ziellose Dahintun, ohne einen konkreten Plan zu verfolgen. Projektorientiertheit, das war es, was sie sich auch für ihr Leben wünschte. Ein projektorientiertes, zielgerichtetes Dasein.“ (24) Auch die mehr als zwanzig Jahre jüngere Tschulie langweilt sich durch ihr Leben, die geschmissene Schule und jegliche Arbeit findet sie gleichermaßen „fad“ wie unnötig, ihre Lieblingsbeschäftigungen sind Fernsehen, Essen und Schlafen. Dazwischen hängt sie in sozialen Medien herum oder mit ihren Freunden im Einkaufszentrum oder der Disco ab. Das erste Zusammentreffen der beiden nicht nur altersmäßig, sondern im Makrokosmos der Großstadt (die trotz etwas plumper Verfremdungseffekte als Wien erkenntlich ist) auch sozio- und topographisch gegensätzlichen Frauen erfolgt dann auf einer Ü-30-Party, wo Karin mit ihren Freundinnen einmal richtig abfeiern und Tschulie sich einen reichen Mann angeln möchte, nachdem der ursprüngliche Plan, diesen via Fernseh-Show kennenzulernen, ad acta gelegt werden musste – mangels intellektuellem Vermögen, das Anmeldeformular korrekt auszufüllen, und mangels Geld für die Anreise zum Casting. Die Party entpuppt sich jedoch für beide Seiten als absoluter Reinfall: Karin und ihre Freundinnen fühlen sich wie im „Kindergarten“ (28), für die zunächst noch ahnungslose Tschulie – „Was heißt Ü-30-Party?“, wiederhole ich. / „Na, Party für über Dreißigjährige. Alles uralte Männer mit Haaren auf der Brust. Wäh!“ (26) – hingegen ist die Veranstaltung ein „Begräbnis“ und „echt der fadeste Schas meines Lebens“ (40). Und während sich der „Altersheim-Weiberausflug“ (35) erschöpft bereits wieder auf den Heimweg macht, startet Tschulie mit ihrer Freundin Michelle nun ins richtige Nachtleben, wo man zumindest altersmäßig wieder unter sich ist. Das Zusammentreffen mit einer Gruppe Gymnasiasten, die in ihren „Skater-Sachen“ zwar aus Sicht der Topmodel-gestylten Mädels eher wie „kleine Kinder“ (41) wirken, hat für Tschulie weitreichende Folgen und rückt ihren TV-Traum vom reichen Märchenprinzen in Person des wohlerzogenen und -behüteten Fabian (optisch in Tschulies Augen ein Wiedergänger von Sheldon aus Big Bang Theory) auf einmal in realistische Nähe: „Alle Serien, die ich ihm sage, kann er aufrufen und das ist voll super. Es gibt sogar Folgen, die ich noch nicht kenne und das finde ich so klasse, dass mich Sheldon bumsen darf. Er ist so schnell fertig, da ist noch nicht einmal die Hälfte der Folge vorbei. Das ist aber umso besser, weil dann brauch ich mich nicht so verrenken zum Fernseher hin, sondern habe meine Ruhe.“ (57) Doch wenig überraschend sind dessen ernsthafte Ambitionen endenwollend und zufälligerweise Karin seine Mutter, die einer nur in Unterwäsche bekleideten Tschulie mit dem fixen Plan, sich häuslich in Fabians/Sheldons Zimmer einzurichten, die Tür öffnet und das weitere Schicksal des „Proletenflittchens“ (133) in ihrer (über)verantwortungsvollen Art in die Hand nimmt. Die ohnehin schon diametral entgegengesetzten Welten werden in der zweiten Romanhälfte um eine zuätzliche erweitert und Tschulie findet letztendlich tatsächlich einen Job, bei dem auch ihr Hauptinteresse, das Fernsehen, nicht zu kurz kommt.

Der Roman bietet wahrlich pures Lesevergnügen: Pistotnig versteht es gekonnt, sämtliche Klischees im sozialen Gefüge zu bedienen und pointiert ohne Rücksicht auf politische Korrektheit gegeneinander auszuspielen. Die witzigsten Momente als Erzählerin kreiert sie, wenn der durchgehend laufende Fernseher oder die allgegenwärtige Handykommunikation das Geschehen zu kommentieren scheinen, und die unterschiedlichen Wahrnehmungen desselben Geschehens von Tschulie und Karin in deren individuell gefärbten Sprachstilen aufeinanderprallen. Einige Druck- und Schlampigkeitsfehler wie z. B. uneinheitlich verwendete Namen (Heißt Tschulies Mutter nun Nicole oder Tamara (vgl. 51)? Und lautet Tschulies Familienname Pawlicek (252) oder doch Kratowatz wie auf dem Klappentext angegeben?) beeinträchtigen dieses hochgradig erfrischende Lektüreerlebnis leider zuweilen, vermögen aber glücklicherweise nicht, es nachhaltig zu trüben.

Silvia Pistotnig Tschulie
Roman.
Wien: Milena, 2017.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-903184-03-9.

Rezension vom 24.10.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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