#Roman

Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde

Raoul Schrott

// Rezension von Helmut Sturm

Eine aus dem 6. Jahrhundert stammende Weltkarte zeigt die kreisförmige Erde vom Ozean umgeben. Im Denken der frühen Kulturen erleben sich die Menschen in der Mitte des Alls, umgeben von den Elementen, Feinden, Riesen und Gnomen, dem Licht des Göttlichen und der Finsternis des Dämonischen. Das Bild spiegelt die Sehnsucht nach einer Mitte, in der frau/man zuhause sein kann. Abstrakt liegt es uns vor in Mandalas, Stadtplänen und Gartenanlagen. Der in Tunis aufgewachsene Tiroler Raoul Schrott hat dieses Bild in der Insel Tristan da Cunha gefunden.

In einem Interview mit der Zeitschrift „Buchkultur“ bezeichnet Schrott das kleine, kreisförmige Vulkan-Eiland im Südatlantik, im Dreieck zwischen Brasilien, der Antarktis und Südafrika, als den entlegensten und einsamsten Ort der Welt. Es sei für einen Autor ein besonders „romantisches Projekt“.

Tatsächlich ist der neue Roman des Literaturwissenschafters ein romantisches Buch und dies im umfassenden Sinn (übrigens eine Wendung, die Schrott mehrfach verwendet, wohl um Leserin und Leser ein wenig auf die Sprünge zu helfen). Samuel Johnson hat im 18. Jahrhundert den Roman als „eine Geschichte, die meist von der Liebe handelt“ bestimmt. Die vier Personen, deren Schicksale sich über die Jahrhunderte hinweg auf der auch heute nur einmal im Jahr mit einem Postschiff zugänglichen Insel kreuzen, erzählen von ihr. Raoul Schrott gelingt dabei das Kunststück zu zeigen, wie alles Reden, über wissenschaftliche Forschungen, Landschaftsphänomene, Briefmarken, … und Tristan da Cunha letztlich nichts anderes ausdrückt als Sehnsucht nach Liebe. Erzählt wird zumeist aus der Perspektive der Protagonisten, der südafrikanischen Wissenschafterin Noomi Morholt, die aus der unmittelbaren Gegenwart des Jahres 2003 ihre E-Mails aus ihrer Forschungsstation im Eis an den Schriftsteller Rui (nicht Raoul) verschickt; des anglikanischen Priesters und Missionars und Bruder des Schriftstellers Lewis Carroll, Edwin Heron Dodgson; des Funkers und Landvermessers Christian Reval, der unter ungeklärten Umständen stirb; und aus der Sicht des Philatelisten Mark Thompson, der anhand seiner Briefmarken die Entdeckung der Insel und ihre Geschichte ebenso rekonstruiert wie die Geschichte seiner gescheiterten Ehe mit Marah.

Die Hauptfiguren haben auch einen Bezug zum mittelalterlichen Tristan-Stoff, vom Autor im Interview so aufgelistet: „Der Pfarrer korrespondiert mit dem Einsiedler Ogrin, der Mark ist der Betrogene, der Reval ist Tristan, die Marah ist die Isolde.“

Romantisch auch die Sehnsucht nach dem Mehr-als-Alles, die Suche nach der Utopie, der Rückbezug auf die Vergangenheit. Es macht staunen, was der Autor uns an Geschichte, die immer aus Geschichten besteht, ausbreitet. Ein Schmökerfeld, ein weites. Romantisch der Ansatz zur Universalliteratur, die Auflösung der Gattungsgrenzen hin zum Lyrischen, das Nebeneinander der verschiedenen Genres, von E-Mail, Logbuch, Erzählung, Tagebuch, Historie … Und klar, überall Literatur, Universalliteratur. Ein wahres Suchfeld, das einzige auf dem wir vielleicht fündig werden, nach Vorlagen, Parallelen. Die Freude beim Lesen, zumindest bei mir, wenn sich die Erinnerung einstellt an die Vorlagen aus der Bibel, bei Dante, Wolfram von Eschenbach …, die Parallelen bei Manuel Rivas oder David Fincher …

Phantastisch die Wortwelten, die sich auftun, die Menge der nie gehörten Begriffe aus der Welt der Nautik, der Meteorologie, der Seemannstechnik, der Walfänger … Ein Buch betörend, ein Buch aber auch, das Ausdauer verlangt. Es überrascht nicht, dass sich ab etwa Seite 400 die Druckfehler noch in der mir vorliegenden zweiten Auflage gehäuft finden lassen.

Am wenigsten überzeugt hat mich die E-Mail-Korrespondenz Noomis (hebräisch für ‚Lieblichkeit‘ – aus dem Buch Rut, in dem sie sich dann Marah, die „Bittere“, nennt, nachdem ihr ihr Schicksal zu hart und ungerecht erscheint) mit ihrem Schriftsteller-Freund. Das haben Jeanette Winterson oder auch Evelyne Schlag schon überzeugender vorgemacht. Es scheint doch nicht so einfach zu sein, aus der Perspektive einer Frau zu schreiben.

Der Schriftsteller Rui (zu verlockend ist es, ihn als alter ego Raouls zu bezeichnen) füllt „Bogen um Bogen eines Romans, der ‚Tristan da Cunha‘ heißen sollte, doch der Name klingt nach einem historischen Schinken, außerdem will ich nicht einen Fliegendreck auf der Landkarte zum Mittelpunkt meiner Welt-Allegorie machen; Tristan allein dagegen nach Wagner und einer Romanze, … und so ein Titel wie ‚Die einsamste Insel der Welt‘ ist bloß etwas für das amerikanische Publikum: ‚Der Sturm‘ werd ich’s nennen.“

Dieser 700-Seiten Roman stellt sich einem mitunter wie ein Sturm entgegen. Es ist schwer, sich darin nicht zu verlieren, einen Durchblick zu finden. Zumal anders als in den alten Mythen die Mitte Tristan da Cunhas nicht mehr die Erde mit dem Himmel verbindet, sondern die Mitte letztlich leer bleibt. Was bleibt, ist allein das Reden.

Raoul Schrott Tristan de Cunha oder Die Hälfte der Erde
Roman.
München, Wien: Hanser, 2003.
719 S.; geb.
ISBN 3-446-20355-9.

Rezension vom 05.01.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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