#Roman

Tote im Verhör

Hellmut Butterweck

// Rezension von Gerald Lind

Hellmut Butterwecks Tote im Verhör ist eine engagierte und kritische Auseinandersetzung mit den Volksgerichten, die unmittelbar nach Kriegsende 1945 in Österreich installiert wurden, um in der Zeit des Nationalsozialismus begangene Verbrechen zu bestrafen. Auf der Basis eines genauen und ausführlichen Quellenstudiums führt Butterweck drei am Volksgericht Wien unter dem Vorsitz von Dr. Friedrich Markus im Jahre 1946 verhandelte Fälle vor:

Der katholisch-konservative ehemalige Major der Wehrmacht Rudolf Karl von Stengel klagt den ehemaligen Oberarzt seiner Kompanie Munzdorfer, weil dieser ihn wegen nazikritischer Aussagen denunziert hatte – Stengel wurde degradiert und konnte in den Wirren der letzten Kriegstage noch vor der Aburteilung durch den Volksgerichtshof fliehen.
Der jüdische Theatermann und ehemalige Blockälteste im KZ Auschwitz-Blechhammer, Viktor Rueff, wird angeklagt, da er sich an seinen Mithäftlingen vergangen und bereichert haben soll.
Die Postangestellte Nowak muss sich vor Gericht verantworten, weil sie Margarete Janda, bei der sie als Untermieterin gewohnt hatte, bei den NS-Behörden als Jüdin angezeigt hat – Janda wurde daraufhin ins KZ deportiert und ermordet.
Butterweck geht es nicht nur um die Aufarbeitung der sehr unterschiedlichen Implikationen, die sich aus diesen drei Fällen ergeben, sondern er möchte mehr: Ihm geht es um die Sichtbarmachung eines Systems der Unverhältnismäßigkeit, der Ungerechtigkeit, das für die Volksgerichte symptomatisch war, und um die Herauspräparierung einer höchst problematischen Mentalität, einer Geisteshaltung, die sich aus den Urteilen der Volksgerichte beziehungsweise aus der Begnadigungspolitik, die den Urteilen folgte, für breite Kreise der Bevölkerung des befreiten Österreich ableiten lässt.

Tote im Verhör wird im Klappentext als Tatsachenroman bezeichnet, auch Dokufiktion oder dokumentarische Literatur bieten sich als Genrebezeichnungen an. Butterweck wählt für die Beschreibung seiner Vorgehensweise eine Metapher: „Meine Phantasie sei ein Hund an der Leine der Wirklichkeit.“ (S. 12) Und der Autor verspricht: „Ich werde freilich den Leser stets wissen lassen, wo die gesicherten Fakten auslassen und die Vorstellung, wie es gewesen sein könnte, beginnt.“ (S. 11)
Dieser Satz zeugt von der Skrupelhaftigkeit Butterwecks in Bezug auf das Verhältnis von Fakt und Fiktion, die allerdings dazu führt, dass in seinem Text die politisch-historische Komponente vor der literarisch-ästhetischen Dimension privilegiert wird. Es scheint bisweilen, als ob aus Gründen der Quellentreue und der intendierten Argumentationsführung die Möglichkeiten der Romanform nicht vollständig ausgeschöpft werden. Offensichtlich fürchtet der Autor, mit einem Weglassen der „Leine der Wirklichkeit“, also einem Zuviel an Fiktion, die Stichhaltigkeit seiner Zeitdiagnose, die Ernsthaftigkeit seines Anliegens zu unterminieren. Vielleicht hat Butterweck damit auch recht, vielleicht wäre es aber auch besser gewesen, das Buch nicht als Roman, sondern ebenfalls als Sachbuch zu konzipieren wie Verurteilt und begnadigt – Österreich und seine NS-Straftäter (2003). Als Grund für die gewählte Form wird im Text jedenfalls auf die kaum vorhandenen Quellen zur Familie, Kindheit und Jugend von Viktor Rueff verwiesen: „Angesichts der wenigen Spuren, die Sie [Viktor Rueff] auf der Welt hinterlassen haben, muss jeder Biograph glatt resignieren.“ (S. 22)
Die schriftstellerische Qualität des Autors, der mit dem Theaterstück Das Wunder von Wien (1983) bekannt geworden ist, bleibt allerdings trotzdem deutlich erkennbar, zum Beispiel in der Schilderung des völlig zerstörten Wien, durch das Viktor Rueff nach seiner Rückkehr aus dem KZ geht. Der Anblick der zerstörten Gebäude löst, ganz im Sinne der Proust’schen mémoire involontaire, bei Rueff Erinnerungen an die Übergriffe gegen die jüdische Bevölkerung aus, der Sinnzusammenhang zwischen Anfang und Ende des Nationalsozialismus wird deutlich.

Etwas problematisch ist die Ungleichgewichtung der erzählten Fälle. Die Aufarbeitung des Falles Nowak erhält erheblich weniger Raum als die Causa Stengel-Munzdorfer, die wiederum weniger ausführlich als der im Zentrum des Romans stehende Prozess Rueff dargestellt wird. Das ist vor allem deshalb schade, weil gerade jenes Kapitel, das die Aussagen der Nachbarn von Janda und Nowak enthält (S. 60-66), zu den besten des Buches gehört. Die Konzentration auf den Gedächtnis-Raum Wohnhaus macht einen von wechselseitigen Beschuldigungen charakterisierten Mikrokosmos sichtbar, der sich aus Erinnerungslücken im Hinblick auf die eigene Person und einem „unfehlbaren“ Gedächtnis in Bezug auf die Nachbarn konstituiert. In weiten Teilen des Textes verzichtet Butterweck allerdings auf eine Ausleuchtung der Charaktere der Täter, was sicher auch mit der Konzentration des Romans auf die Opferperspektive zu tun hat. Nicht umsonst heißt es an einer Stelle zu der in Untersuchungshaft sitzenden Nowak: „Der Hund Phantasie zieht an der Leine. Er will hier aber nichts wahrnehmen. Er will nur hinaus. Er hat nicht die geringste Lust, sich auszumalen, was in der Frau auf dem Strohsack vorgehen mag.“ (S. 88)

Vielleicht hätte manchen Leser interessiert, was in den Köpfen der im Nationalsozialismus schuldig Gewordenen vorgegangen sein könnte, aber der Roman perspektiviert im Wesentlichen eine andere, mindestens ebenso interessante Gruppe, nämlich jene Akteure des Volksgerichtes, die – nach Meinung des Autors – nach 1945 schuldig geworden sind, indem sie mit zweierlei Maß gemessen haben. Die Butterweck’sche Analyse geht dabei von folgender Leitfrage aus: Wie konnte es dazu kommen, dass der ehemalige KZ-Häftling Rueff kurz nach Kriegsende wegen eines – das wird im Roman ausgezeichnet herausgearbeitet – ihm zu Unrecht vorgeworfenen Verhaltens abgeurteilt wird, während der Denunziant Munzdorfer freigesprochen und die Denunziantin Nowak zu einer milden Strafe verurteilt wird? Der Autor schlägt für die Erklärung eine Brücke zum Ständestaat, dem viele der Richter am Volksgericht verbunden waren und in dem die Denunziation eine weit verbreitete Praxis war. Außerdem werden Beispiele angeführt, die belegen, dass Personen, die zwar Nationalsozialisten waren, aber dennoch in bestimmten Situationen gegen menschenverachtendes Vorgehen Widerstand leisteten, besonders streng bestraft wurden. Auch wird der Fall des korrupten Staatsanwaltes Pastrovich angeführt, der sich allerdings nicht von jedem, sondern nur von ihm (politisch) Opportunen, bestechen ließ. All diese Umstände bilden die Folie für Butterwecks Schlussfolgerung, dass „unter dem Vorsitz des […] Richters Markus belastende Umstände schwerer wogen, wenn sie gegen einen Juden, und leichter, wenn sie gegen einen Denunzianten sprachen, und umgekehrt alles, was gegen die Schuld des Angeklagten sprach oder diese in einem milderen Licht erscheinen ließ, bei einem Juden vom Tisch gewischt und bei einem Denunzianten sorgfältig in Rechnung gestellt wurde“. (S. 230)

Die im Titel angesprochenen Toten im Verhör meinen tatsächlich weniger die Angeklagten der dargestellten Prozesse als das Personal des Volksgerichtes Wien. Es ist die detaillierte, vor allem anhand des Viktor Rueff minuziös aufgezeichnete und ausgearbeitete Darstellung von Unrecht, das im Namen des Rechtes begangen wurde, die Hellmut Butterwecks Roman, der eigentlich kein Roman sein möchte, zu einem wichtigen Buch macht. Wer heute noch daran glaubt, dass wenigstens in den allerersten Jahren nach dem Ende des Nationalsozialismus an den Volksgerichten eine ernsthafte und ernstzunehmende Aufarbeitung der Naziverbrechen erfolgt ist, dem kann mit dem Band Tote im Verhör bzw. den darin dargestellten Fällen Aufklärung verschafft werden.

Hellmut Butterweck Tote im Verhör
Roman.
Wien: Picus, 2008.
230 S.; geb.
ISBN 978-3-85452-628-5.

Rezension vom 15.04.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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