Siebzehn internationale Autoren, Filmkritiker und -historiker, Medien-, Literatur- und Wirtschaftswissenschaftler hatten sich im November 2002 in Hamburg getroffen und, unterstützt vom Hamburgischen Centrum für Filmforschung, dem Filmarchiv Berlin, der Friedrich-Murnau-Stiftung, dem Kommunalen Kino und dem Institut für Neuere deutsche Literatur und Medienkultur, vier Tage lang versucht, dieses Defizit auszugleichen. Der vorliegende Band enthält, in leicht überarbeiteter Form, die Beiträge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (leider ohne die sicher spannenden Diskussionen).
Geschichte der Tobis – die schreibt sich zunächst einmal durch Zahlen und Fakten. So arbeitet etwa Jeanpaul Goergen die Kurzfilmproduktionen von 1929 (Tobis reichte allein im ersten Jahr ihres Bestehens 84 davon zur Zensur ein, darunter vor allem Musikfilme, Ansprachen und Vorträge, weniger künstlerisch-experimentelle Filme) bis 1934 auf (da waren’s nur noch zwei); Wolfgang Mühl-Benninghaus rekonstruiert den Wandel von der internationalen Patentgesellschaft zum Staatskonzern – ein Vorgang, der nicht nur den wirtschaftlichen Aufstieg und die sich anschließende Finanzkrise der Firma (samt Tochtergesellschaften) belegt (die Erlöse aus dem Export deutscher Spielfilme gingen von 1932 – 1943 drastisch zurück, die Herstellungskosten verdoppelten sich, die antijüdischen Maßnahmen brachten Produktions- und Verleihfirmen zum Erliegen), sondern auch erhellt, wie kühl kalkulierend Goebbels diese Situation nutzte, um im November 1937 die Tobis in die Cautio-Treuhand GmbH zu überführen und grundlegend zu reorganisieren. Dass vorübergehend die Verluste der Firma gestoppt werden konnten, liest sich nicht nur als ein wirtschaftlicher Erfolg; wichtiger war, dass durch die damit veränderten personellen und organisatorischen Strukturen (vor allem Führungskräfte der Ufa wurden eingesetzt, stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats wurde Emil Jannings, Galionsfigur des NS-Films und gleichzeitig Dramaturg, Regisseur und Mitglied im neu geschaffenen Kunstausschuss) die angestrebte ‚Disziplinierung des Film- und Theatersektors‘, das heißt, die Gleichschaltung der Filmwirtschaft und ihre (verdeckte) Verstaatlichung mehr oder minder gelungen war.
Dennoch warnt der Herausgeber des Bandes davor, die Geschichte der Tobis nur vor ihrer Involviertheit in den Nationalsozialismus zu begreifen. Die Beiträge der Autorinnen und Autoren verstehen sich ausdrücklich als Problematisierung der aktuellen Formen der Geschichtsschreibung. „Stimmen die gängigen Vorstellungen zum ‚NS-Film‘ und zur Propaganda im Kino? Und wie kann angesichts der unterschiedlichen Firmen, die unter dem Dach der Tobis wirkten, überhaupt von der Geschichte ‚der Tobis‘ gesprochen werden“ (S. 8), fragt Jan Distelmeyer und konstatiert: „Es gilt, einen Bogen zu schlagen von der Technikgeschichte des europäischen Tonfilms Ende der 1920er Jahre über die Entwicklung eines europaweit agierenden, international finanzierten Filmkonzerns um 1930 bis hin zum Ausbau des Unternehmens zu einem Großproduzenten unter den Bedingungen des ‚Dritten Reichs'“ (S. 8). Tobias Nagls Artikel zu Hans Steinhoffs „Ohm Krüger“, dem zweitteuersten Prestigeprojekt der NS-Zeit, Michael Wedels Beitrag zum Tobis-Klangfilm-Kartell (die Tonfilmumstellung erfolgte 1928-32), Malte Hageners Untersuchung zu den nationalen Märkten und europäischen Strategien, die den europäischen Multimediakonzern, „finanziert von Risikokapital, das an der amsterdamer Börse gesammelt“ (S. 51) und in den Pariser, Londoner, Madrider, Lissabonner Studios, Filialen der Berliner Muttergesellschaft, ausgegeben wurde (die ihrerseits von Großkonzernen wie AEG, Siemens & Halske oder Ufa Unterstützung erhielt), sowie Karel Dibbets‘ Artikel „Tobis, made in Holland“ ergänzen sich zu einem informativen, vor allem aber ideologiekritischen Gang durch die Lichtspiel-Geschichte.
Film als Ware. Film als Kunst. Die Grenzen sind fließend. Nichts macht dies so deutlich wie Gerald Kolls Untersuchung zum nationalsozialistischen Unterhaltungsfilm am Beispiel der Komödie „Altes Herz wird wieder jung“ (1943), die bis heute mit einer geradezu fahrlässigen Unbedenklichkeit über den deutschsprachigen Fernsehbildschirmhimmel flimmert. Und dennoch, selbst ein Mann wie Viktor Klemperer konnte 1957, als er in einer Filmclubvorführung in der DDR einen anderen Klassiker, Steinhoffs 1938 produzierten „Tanz auf dem Vulkan“, sah (in dem Gustaf Gründgens die Hauptrolle des Pariser Schauspielers Debureau zur Zeit der bürgerlichen Revolution 1830 spielte), dem Film seine Anerkennung nicht versagen. Tobis – eine Geschichte, die bearbeitet, kaum je aber aufgearbeitet sein dürfte. Und das ist gut so.