Es wurden dafür „spezielle Algorithmen entwickelt, die all das, was Sie sehen, hören, fühlen und denken auch in ein stringentes, formal und erzähltechnisch sinnvolles System bringen.“ Dieses zur Erzählung verwurstete Bewusstsein soll dem Psychiater dabei helfen in die Psyche seines Patienten Tobman Einblick zu erlangen, welcher seinerseits durch die digitale Begleitung dazu verleitet werden soll, sein Leben umzukrempeln, sein Bewusstsein zu „[r]ekalibrieren“. Dieser etwas gimmickhaft anmutende Erzählrahmen führt uns, gefiltert durch die „narrative Transformation“ des Narravatar, mitten in das Leben des Protagonisten Tobman, eines durch und durch durchschnittlichen Menschen: nervtötender Job bei einem anspruchslosen Unterhaltungsmagazin, trister Familienhintergrund, der ihn nicht loslässt, nie verwirklichte Künstlerträume, Depressionen.
Einen Tag im Leben Tobmans bekommen wir so als Erzählung, die der Narravatar aus den gesammelten Daten erstellt, serviert. Wer hier jetzt eine weitere Kritik an der ständigen digitalen Verfügbarkeit und Überwachung erwartet, wird zunächst enttäuscht (oder atmet erleichtert auf), handelt es sich bei Tobman doch nicht um einen „halbinformierte[n] Apokalyptiker der Digitalität“. Behauptet er zumindest, um dann doch zum Rundumschlag auszuholen: „Mache mich transparent, so transparent wie möglich. Ich werde ganz Ware. Allein die Bereitschaft zur Zurschaustellung meiner Selbstreflexion bedeutet bereits die totale Selbstökonomisierung.“ Das Verhältnis von Tobman zum Narravatar ist zwiespältig. So löst das Gefühl von der Maschine beobachtet zu werden in Tobman einerseits zwar einen Willen zur Veränderung aus. Er möchte „[r]aus aus der stumpfsinnigen Gehorsamkeits- und Anbiederungstretmühle, weg von den Geistesgestörten dieser Welt“. Er kündigt dramatisch seinen Job und verbringt eine Nacht im Rausch, um schließlich am nächsten Tag, so wird zumindest angedeutet, einen finalen Schritt zu tun. Andererseits aber fürchtet er – und hier ist er wohl doch Apokalyptiker – Manipulation durch das Gerät: „Was, wenn die Software fehlerhaft programmiert wurde oder ein Art Autorkorrektur und eine Autovervollständigungsfunktion hat? […] Was für ein Mensch wird erfunden, verfasst, neu geschrieben, umgeschrieben? Fake Tobman! Gefälscht von einer Software. Ein reales Wesen als Computersimulation.“ Alles andere als eindeutig also, aber wann war Bewusstsein schon eindeutig?
Tobman tobt.
Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil besteht die Erzählung von Tobmans Bewusstsein allerdings aus stummen Schimpftiraden. Da ist etwa seine Bekannte Karin, die sich auf einem Selbstfindungstrip inklusive diverser Lebensmittelunverträglichkeiten befindet und vor der Tobman bei einem gemeinsamen Mittagessen die Flucht ergreift, während er innerlich über die „Gesundheitsapostel und Ernährungsdistinktionsfaschisten“ geifert. Oder er läuft heiß angesichts der Verlogenheit des sogenannten „kritischen Journalismus“. Oder der Akteure des Kunst- und Kulturbetriebs. Oder von Social Media. Besonders entnervt zeigt sich Tobman vom Drang seiner Umgebung zur „Distinktion“, zur Abgrenzung vom Mainstream, etwas Besonderes sein zu wollen und es sich dabei doch wieder in der Masse an ‚besonderen‘ Menschen bequem zu machen. Dabei ist die Lust am sprachlichen Wutanfall spürbar (und unterhaltsam), aber auch dessen Hilflosigkeit und Ohnmacht offensichtlich. Denn dieser Wut, die unter der Oberfläche brodelt, gelingt es nicht, sich nach außen zu artikulieren und somit vielleicht etwas zu bewirken oder zumindest wahrgenommen zu werden. Tobmans Wut hat keinen Effekt, versandet in ihrer eignen Wahllosigkeit.
Soundkulissen
Unterbrochen wird die Erzählung immer wieder, wenn Tobman in die Geräusche seiner Umgebung versinkt oder sich die Soundscapes verschiedenster Situationen vorstellt. Ein Baby, beispielsweise, schwimmt „in einem Fruchtwasserozean aus Sound“, in den Tobman eintaucht und uns teilhaben lässt. Oder es schieben sich fantasierte Geräusche einer Schönheitsoperation in die Gedanken Tobmans und damit in die Erzählung des Narravatars: „Festziehen, rascheln, quietschen, knarzen, schaben, schmatzen, bohren, fiepen. Festziehen, rascheln, quietschen, knarzen, schaben, schmatzen, bohren, fiepen. Festziehen, rascheln, quietschen, knarren, schaben, schmatzen, bohren, fiepen.“
Diese (Sound-)Passagen kulminieren gegen Ende in einer Reihe von Traumsequenzen, die Tobman nach einer Nacht voll Alkohol, Drogen und einer sexuellen Begegnung überkommen. Bilder und Klänge stürzen im Schlaf über ihn herein, er verliert sich in „eine[r] Art Sprachsuppe, eine[r] abstrakte[n] Bildersuppe, ich weiß nicht genau, eine[r] Meinungssuppe möglicherweise […]. Sehe und höre mich um.“ Regen und Wasser im Allgemeinen spielen in diesen Sequenzen – wie schon gelegentlich davor – eine große Rolle, alles verflüssigt sich, der Regen lässt die Welt „hinter einer knisternden Wand aus Sound und Wasser“ verschwinden. Die Stadt geht im Wasser unter, es dringt in jede Ritze, in jede Lücke.
Gerade auf diesen letzten Seiten wird der Spaß an der Arbeit mit Sprache und Rhythmen, mit Klängen und auch Bildern sicht- und hörbar und der Hintergrund des Autors Berlakovich als Soundarbeiter offensichtlich. Es sind diese Passagen, die sich ein wenig vom herkömmlich Erzählten, allzu leicht Nachvollziehbaren abheben, die tatsächlich einen Einblick in Tobmans Innenleben gewähren und die Vermutung aufkommen lassen, dass man lesend möglicherweise vom Narravatar zum Narren gehalten worden ist.