Katharina Riese, wie sehr viele „Wiener“ eine „Zugezogene“, versucht in ihrem Essay The Making of Vienna zu ergründen, wie sich solche Wien-Bilder in der Literatur konstituieren. Dabei hat sie drei Romane von Autorinnen (deshalb der Untertitel „Frauen-Blicke auf Wien“) untersucht: So eine schöne Liebe von Claudia Erdheim, Nachtmär von Elisabeth Reichart und Verführungen von Marlene Streeruwitz. 709 Wien-Nennungen hat sie in den drei Romanen gefunden und daraus versucht, komparatistisch ein „Wien-Triptychon“ entstehen zu lassen.
Claudia Erdheim, in Wien geboren und lebend, führt den Leser am Anfang ihres Romans So eine schöne Liebe durch das nächtliche Wien. In einer kühlen Märznacht schlendern Sophie Reuter und Eugen Berg der Ringstraße entlang über die Liechtensteinstraße in den 9. Bezirk, auf der Suche nach einem Lokal, das noch offen hat. Sie finden ein Café, trinken Mineral, dann ist Sperrstunde. Berg will noch einen Schnaps, die beiden zieht es in den ersten Bezirk: Börse, Judenplatz, Graben, Kärntnerstraße. Präzise führt Erdheim ihre zwei Figuren durch Wien spazieren, Riese begleitet die beiden und versorgt ihre Leser mit fremdenführerischem Detailwissen zu den Lokalen, Plätzen, Straßen: Warum sie so heißen, wann sie erstmals urkundlich erwähnt wurden etc. Erdheims Wien ist voller topografischer Hinweise, sodass man, liest man den Roman genau, wahrscheinlich einen halbwegs präzisen Stadtplan anfertigen könnte. Wien wird als einladender Ort voller Lokale gezeichnet. Riese über Erdheims Roman: „In So eine schöne Liebe ist Wien ein Ensemble von urbanen Angeboten, die darauf warten, entdeckt und konsumiert zu werden.“
Ganz anders das Wien-Bild, das Elisabeth Reichart, im oberösterreichischen Steyregg geboren und jetzt in Wien lebend, in Nachtmär zeichnet. Hier ist ein „Nachgehen“ der Figuren nicht möglich. Wie die Erzählinstanz von einer Figur zur anderen wechselt, changieren auch die Schauplätze, ohne dass der Leser ihrer habhaft werden kann. Der erste Name, der eine Lokalisierung erlaubt, ist eine Filiale der Buffet-Kette mit dem unaussprechlichen Namen „Trzesniewski“ (der „Treschi“, auf gut Wienerisch). Nicht Wiens Topografie, sondern seine Geschichte wird zum bestimmenden Element des Stadt-Bildes. Die NS-Zeit ist nicht verarbeitet und teilt die Stadt in Opfer und Täter. Esther, eine Jüdin aus New York, zieht nach Wien in eine WG. Schon allein ihre Anwesenheit genügt, damit sich ihre Mitbewohner als „Eichmann-Kinder“ fühlen. Als Esther schwanger wird und deren Hilfe benötigt, lassen sie sie im Stich und entsprechen damit dem Verhalten ihrer Ahnen. Reichart zeichnet Wien in Form eines Psychogramms, die Beschreibung einer Aulandschaft verweist auf die mythische, vorzivilisatorische Tiefe, das Untergehen und Auftauchen von Leben, Lügen, Wahrheiten.
Marlene Streeruwitz eröffnet ihren Roman Verführungen mit einer nächtlichen Autofahrt in den vierten Bezirk. Wie die Hauptfigur Helene mit ihrem Auto hektisch durch Wien fährt, Spuren wechselt, abbremst und beschleunigt, wechselt auch der Erzählton, stotternd, schnell sprechend, folgen komplexe Satzgebilde auf reduzierte Einwortsätze. Streeruwitz führt ihre Figuren von einem In-Lokal ins nächste, vom „Alt Wien“ über „Oswald & Kalb“ ins „Santo Spirito“, vom „Hawelka“ über das „Café Korb“ ins noble „Landtmann“. 21 Seiten füllt die Liste der Innenstadtlokale, die Riese zusammengestellt hat. „Wir sehen ein ‚hollywoodisiertes‘ Wien: Schöne Menschen, die in schöner Umgebung unschöne Sachen machen. Der Stoff, den Marlene Streeruwitz aus den lokalen Voraussetzungen erarbeitet hat, sorgt für Glamour, Thrill und Happy End (wenn auch – wie schon gesagt, in einer ungewöhnlichen, Hollywood-untauglichen Form, nämlich am Arbeitsamt). Hier geht es ums Überleben und ums Geld.“
Drei Wien-Bilder also, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Überraschend ist, wie sehr sich die Geschehen auf den ersten Bezirk konzentrieren, frappierend, wie häufig Lokale die Wien-Bilder prägen und konstituieren. Sind die „wirklichen“ Wiener solch eifrige Wirtshausgeher oder nur die „literarischen“? Eigenartig, dass die Figuren sich meistens in den teuren Lokalen innerhalb des Gürtels vergnügen, nicht in den Beisln der Außenbezirke, den Weinhäusern, den Espressi, wo die „interessanteren“ Lebensgeschichten erzählt werden.
Katharina Riese hat sich mit Making of Vienna (1) große Mühe gemacht, hat die drei Romane genau gelesen, intensiv und gründlich recherchiert und sehr viel Wissenswertes zusammengestellt. Ein spannend zu lesendes Buch, voller Hinweise und Informationen, die nicht nur für Wiener interessant sind. Und viel zu schnell ist man auf der letzten Seite angelangt. Hoffentlich schreibt sie, wie implizit angedeutet, „The Making of Vienna (2)“, um die Gedanken, die sie in diesem Buch entwickelt hat, weiterzuführen und zu präzisieren. Wir warten gespannt!