#Sachbuch

Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft

Roland Borgards (Hg.)

// Rezension von Martin Sexl

Dem Reclam-Verlag ist hoch anzurechnen, dass er SchülerInnen, Studierende und Lehrende seit vielen Jahrzehnten mit kostengünstigen und für den Unterricht brauchbaren methodischen wie theoretischen Einführungen und Anthologien von Texten jeglicher Spielart versorgt. Und der vorliegende Band ist ein weiterer erfreulicher Baustein des großen Reclam-Gebäudes: Er vereinigt wichtige kulturtheoretische Texte (beginnend mit Giovanni Battista Vico) vom frühen 18. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart.

Auch wenn man die Kulturtheorie noch (weit) vor Vico beginnen lassen könnte – einige Überblicksdarstellungen greifen bis in die Antike aus –, so macht es nicht nur aus Gründen des zur Verfügung stehenden engen Rahmens Sinn, sie mit Vico einsetzen zu lassen, setzt dieser doch in seiner „Scienza Nuova“ (von 1725) systematisch die Erkenntnis der Geschichte (und damit der Kultur) gegen das cartesianische Weltbild, in dem Naturerkenntnis allemal die höchste Stufe menschlichen Erkenntnisstrebens darstellt. Borgards spannt den Bogen von Vico ausgehend über Rousseau, Herder, Hegel, Burckhardt, Nietzsche, Freud, Mauss, Elias, Cassirer, Benjamin, Horkheimer/Adorno, Foucault, Luhmann, Derrida, Geertz, Clifford, Bhabha, Kittler und Butler bis zu Bruno Latour. Die Auswahl vermag – wenn man einmal davon absieht, dass mit Judith Butler nur eine Frau zu Wort kommt – zu überzeugen, zumal in der vorangestellten kurzen Einführung nicht nur das Problem der Kontingenz solcher Entscheidungen reflektiert wird (und dabei erfreulicherweise 31 weitere Namen von KulturtheoretikerInnen erwähnt werden, deren Texte man mit Fug und Recht ebenfalls hätte aufnehmen können), sondern auch die vorliegende Auswahl mit plausiblen Argumenten vertreten wird. Das erlaubt auch den in der Kulturtheorie noch unerfahrenen LeserInnen auf weitere Spuren- und Textsuche zu gehen.

Borgards macht deutlich, dass man an das Thema systematisch (Was ist Kultur? Was ist Kulturtheorie? Was ist Kulturwissenschaft?), historisch (Alles ist Kultur; jede Kultur hat eine Geschichte; alles hat eine Geschichte – auch die Kulturtheorie selbst) oder auch beides herangehen kann – und entscheidet sich für den zweiten Weg. Die Texte der Auswahl werden in drei Gruppen eingeteilt: „philosophische Kulturgeschichte (Vico bis Burckhardt); Kulturtheorie nach Nietzsche (Nietzsche bis Horkheimer/Adorno); poststrukturalistische orientierte Kulturwissenschaft (Foucault bis Latour)“ (S. 12). Das mag auf den ersten Blick ein wenig willkürlich klingen, Borgards vermag aber plausibel zu erklären, warum er diese Begrifflichkeit und diese Einteilung wählt. Ebenso überzeugend und auch hilfreich (wenn auch an der einen oder anderen Stelle nahezu ein bisschen pathetisch, was nicht weiter stört) sind die knappen, aber treffenden Anmerkungen zur Tatsache, dass jede Anthologie (weil sie auswählt und durch Benennungen und Einteilungen strukturiert und klassifiziert) poetisch und politisch – das heißt performativ – zugleich ist.

Unklar bleibt, warum die erwähnte Einteilung in drei Gruppen von Texten nicht schon im Inhaltsverzeichnis ersichtlich wird – aber das ist völlig unerheblich. Etwas irritierender ist jedoch, dass jeder einzelne Text der Auswahl jeweils mit einer eigenen vom Herausgeber hinzugefügten Überschrift eingeleitet wird, die das Charakteristikum des jeweiligen Textes in ein, zwei Stichworten umreißen soll. Meist sind diese ‚Mini-Konzeptualisierungen‘ durchaus sehr treffend: „Kulturen lesen“ für Geertz‘ „Dichte Beschreibung“ oder „Kulturelle Differenz und Dritter Raum“ für Bhabhas Text bringen ja in der Tat einen wesentlichen Zug der beiden Theoretiker zum Ausdruck. Mehr Schwierigkeiten bereiten jedoch etwa „Kulturanalyse“ für Freud (das passt natürlich irgendwie, passt aber zu allen anderen auch irgendwie – zudem gibt es ein gleichnamiges Buch der Kulturtheoretikerin Mieke Bal, das unter diesem Titel in der Anthologie besser aufgehoben wäre), „Kultur und Differenz“ für Derrida (passt natürlich auch irgendwie, vergisst aber die Tatsache, dass sich sehr viele KulturtheoretikerInnen mit dem Thema der Differenz beschäftigen und Derrida gar kein Kulturtheoretiker im engeren Sinne ist) oder „Kulturmaterialismus“ für Benjamin (der nur in einem eingeschränkten und sehr spezifischen Sinne als „Materialist“ bezeichnet werden kann). Zugute halten muss man Borgards allerdings, dass er in den durchwegs gelungenen ein bis eineinhalb Seiten langen Einführungen zu jedem Text durchaus klarstellt, in welcher Form der Kulturbegriff Thema im Werk der jeweiligen TheoretikerInnen ist.

Diese kurzen Einführungen zu den jeweiligen Texten, für deren Verständnis ein gewisses Vorwissen nicht von Nachteil ist, fallen, denkt man an die Komplexität des Werkes der vorgestellten AutorInnen, beinahe gar zu kurz aus – der zu Marcel Mauss‘ „Die Techniken des Körpers“ weist gerade mal 16 Zeilen auf. Sie können daher, ebenso wie die Einführung in das Buch, keine systematischen oder kontextualisierenden Gedanken zum Kulturbegriff oder zum Werk der vorgestellten AutorInnen exemplifizieren. Dies von einer, für den ’schnellen Gebrauch‘ (etwa im Unterricht) bestens geeigneten Anthologie zu verlangen, wäre aber unfair, macht doch eine jede Anthologie (und auch solche, für die man weit tiefer in die Geldtasche greifen muss) ohne begleitende Lektüre methodischer, theoretischer oder kulturgeschichtlicher Texte wenig Sinn.

Etwas störender sind da schon die Auslassungen in einigen der Texte, wenn sie auch angesichts des zur Verfügung stehenden Platzes verständlich sind. Wirklich störend werden die Auslassungen aber dann, wenn wichtige Passagen fehlen oder die Auslassungen nicht markiert sind: So vermisst man bei Geertz‘ „Dichter Beschreibung“ doch einige zentrale Passagen, deren Fehlen zudem mancherorts nicht angezeigt wird. Und dass bei Bhabhas „Verortung der Kultur“ der zweite Teil eines Textes mit dem Originaltitel „The Commitment to Theory“ firmiert (auf deutsch als „Das theoretische Engagement“ im Sammelband „Die Verortung der Kultur“ publiziert), hätte man deutlich machen sollen und problemlos können. Diese etwas nachlässige Handhabung philologischer Prinzipien bleibt jedoch die Ausnahme. Positiv sticht auch das erfreulich knappe Verzeichnis zu weiterführender Literatur ins Auge: Keinem ist mit einer Hundertschaft an Literaturhinweisen gedient, und das Wichtigste ist hier zu finden. Allenfalls hätte man der eigenen Einteilung Borgards zufolge das Literaturverzeichnis ebenfalls in systematische, historische und systematisch-historische Texte unterteilen können. Aber bevor der Rezensent, weil am Buch das Wesentliche gelungen ist, bei unwichtigen Details zu mäkeln zu beginnen droht – und das hat diese Anthologie nun wirklich nicht verdient, im Gegenteil! –, sei sie allen Lehrenden und Studierenden als ein mehr als nur brauchbares Instrument anempfohlen.

Roland Borgards (Hg.) Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft
Stuttgart: Reclam, 2010.
292 S.; brosch.
ISBN 3-15-018715-9.

Rezension vom 23.03.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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