#Prosa

text: ein erinnern

Waltraud Seidlhofer

// Rezension von Petra Nachbaur

text: ein erinnern ist ein leise fesselnder Titel. Leise, weil in ihm so wenig vordergründig Spektakuläres versprochen, wie im Buch auch gehalten wird. Fesselnd, da er den Leser zu Spekulationen versucht. Da nicht ein Punkt steht, der den Titel vom Untertitel schiede, drängen sich Fragen auf nach dem Bedeutungsspektrum, das diese Zeichensetzung evozieren mag.

Angenommen, das Zeichen sei als Doppelpunkt verstanden. Will es dann einfach hinführen vom Text ins Erinnern, ins Phänomen des Erinnerns, will es suggerieren, Text sei Erinnern, vielmehr „ein“ Erinnern? Und da „text“ selbst ohne Artikel auskommt, kann davon ausgegangen werden, es handle sich nicht bloß um einen, diesen Text, sondern um „text“ schlechthin? Will das Zeichen gar eine mathematische Operation benennen, will es Text durch ein Erinnern dividieren – und dabei einen Text, den Text, den Waltraud Seidlhofer hier vorlegt, als Resultat erhalten wissen?

Das nachgestellte Inhaltsverzeichnis deutet an, es handle sich um eine Topographie des Gedächtnisses. Orte und Räume werden benannt, mehrfach wiederkehrend, locker verbunden durch das mehrmals auftretende dynamische Element „fahrt“. „stadt I“ und „stadt II“ markieren ein abstrahiertes Reisebuch durch namenlose Landschaften, belebt von namenlosen Personen, „kindern“ und „erwachsenen“. Mehrere Schichten werden übereinandergetragen in diesem und in diesen Text.

„der durchsichtige vorhang, store, der vor dem fenster haengt, bildet zusaetzliche muster und strukturen, da sich in ihm eingewebt blaetter, auch ranken und bluetenaehnliches, der umriss eines vogels befinden.“ (S. 54) „store“ heißt aber bekanntlich auch „Vorrat“, „Lager“, „Laden“, und so treten Welt und Text nicht nur durch das transparente Textil als Wahrnehmungsfilter in Beziehung, sondern so wird Literatur auch durch den und aus dem Textvorrat generiert, konstruiert und quasi-archäologisch rekonstruiert.

Bewegungen werden gebremst durch poetologische Sequenzen, dann wieder vorangetrieben durch Schilderungen von Prozessen und minuziöse Beschreibungen unterschiedlicher Abläufe. Benannt werden Fortbewegungsmittel (Bus, Straßenbahn, Zug, Auto, Schiff), punktuelle topographische Einheiten (Zimmer, Wohnung, Haus, Irrenhaus, Friedhof), Aufbruchs-, Ankunfts- und Übergangsstellen (Hafen, Bahnhof, Grenzsee). Doch entsteht kein Labyrinth, sondern eher ein Netz von Linien und Spuren wie verästeltes Geäder unter Haut.

Den Effekt von unwirklicher Plastizität bei hyperrealistischer Präzision bewirkt unter anderem auch der Einsatz des Konjunktivs. Irrealis der Gegenwart und der Vergangenheit bestimmen zahlreiche Abschnitte des Buches. Seidlhofer konstruiert Konditionalgefüge, die einen Teil des Gefüges konsequent verweigern, die etwa die Folge verweigern und somit ein Bündel von Möglichkeiten, ja geradezu den Inbegriff der Möglichkeit anwerfen.

Seidlhofer schreibt die Welt der Dinge, der Landschaften, der Lebewesen und der Zeichen, der Bilder, der Schrift. Text in seiner materiellen Dimension wird zum Leitmotiv des Erinnerns: Inschriften auf Grabsteinen, Aufschriften auf Warencontainern, Papierfetzen von Plakatwänden. Inbegriff der Schrift ist das Fragment, sind Papierschnipsel und zerrissene oder aufgeweichte Zettel, Textreste oder -fetzen, manchmal sogar in fremden Sprachen. Stets sind es texttektonische Verschiebungen, die von der Autorin mit seismographischer Sensibilität beobachtet und aufgezeichnet werden.

In den statischeren Abschnitten ist Seidlhofers „text“ ein Welt-Setzkasten, ein radikales Album. Im Wechselspiel mit den dynamisch bewegten Passagen (!) entsteht ein „Mapping“ des Bewußtseins, entwickeln sich Kartographien der Wahrnehmung. Und wie es einer gewissen Übung bedarf, Karten zu lesen, beim Kartenlesen eine gewisse Geläufigkeit im Schweifen sich anzueignen, so bewirken Seidlhofers textuelle Gedächtnisgänge beim Lesen mehr ein Schlingern im Text denn ein lineares „den Text verschlingen“. Es verliert sich leicht in der Lektüre, es verirrt sich, verläuft sich, verfährt (sich) im Text, hält inne, sucht eine bestimmte Stelle und findet sie nicht mehr, da die Stellen im Erinnern sich ähneln. Und so taucht man schwindlig und benommen wieder herauf, heraus aus diesem „text“ – und „ein erinnern“ daran ist schön.

Waltraud Seidlhofer text: ein erinnern
Prosa.
Linz: Blattwerk, 1999.
224 S.; brosch.
ISBN 978-3901445262.

 

Rezension vom 10.08.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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