#Roman
#Debüt

Tau

Thomas Mulitzer

// Rezension von Erkan Osmanovic

„In meinen Adern flossen Blut und Frost“

„Das Schreiben besteht ja nicht nur aus dem Hirnwichsen und den Bewegungen der Hand, aus dem ewigen Grübeln, dem Zermartern und Zweifeln, es besteht wirklich nicht nur aus der stolzen Einsamkeit und dem Flüchten in eine Fantasiewelt. […] Auch besteht es nicht aus dem Nachforschen und Häuten, dem Hinrotzen von Gespinsten und dem maßlosen Verstümmeln unverfälschter Unschuld, wie wenn man einem Neugeborenen noch im Kindbett beide Arme abhackt.“ Doch worum geht es beim Schreiben denn sonst? Das treibt den Ich-Erzähler in Thomas Mulitzers Debutroman Tau um – das und Thomas Bernhard. Genauer gesagt sein erster Roman „Frost“ aus dem Jahre 1963.

Der Ich-Erzähler nimmt uns mit nach Weng. Achtung! Das fiktive Weng. Wobei, Parallelen zu Goldegg-Weng im Pongau gibt es schon. Dort sind auch Thomas Mulitzers Großeltern beheimatet gewesen und wie die anderen BewohnerInnen Wengs in Bernhards Roman als schwachsinnige Menschen beschrieben worden. Das örtliche Wirtshaus ist der Hauptschauplatz des Romans. Die Geschichte: Ein junger Mann nimmt den Auftrag an, den Spuren des verstorbenen Thomas Bernhard nachzugehen. Er reist in das Gebirgsdorf Weng und quartiert sich im Gasthaus seiner Großeltern ein. Dort angekommen folgt er den Bernhard’schen, aber auch seinen eigenen Zuschreibungen der Wenger – all dies im Auftrag von Professor Lavie: „Er verlangte von mir detaillierte Aufzeichnungen über meinen Aufenthalt. Eine präzise Beschreibung der Begegnungen und Gespräche, der Erzählungen meines Großvaters, meiner Gedanken. Einen Bericht über alles, was ich in Erfahrung bringen konnte. Die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft. »Schreiben Sie alles auf, es kann alles von Bedeutung sein.«“ Gesagt, getan. Doch der Erzähler verliert sich nicht nur in Bernhards Fährte, sondern auch in den Möglichkeiten des Lebens: „Ich beobachtete die Burschen mit ihrem Rausch und den aufgeschwemmten Backen, den verdreckten Fingernägeln und dem Stallparfüm im Nacken und fragte mich, ob ich in einer anderen Dimension der Realität einer von ihnen geworden wäre. Wenn ich im Innergebirg geblieben wäre, wenn ich die Hauptschule besucht und nie Kerouac gelesen hätte, wenn ich Mechaniker auf der Schattseite geworden wäre, hätte ich die gleichen roten Wangen, würde ich dem Schnapsbrenner Geld schulden und derbe Trinksprüche auswendig aufsagen können? Wäre ich wie sie, wenn ich nicht ich wäre?“
Doch ganz losgelöst ist er nicht. Eine Person verbindet ihn mit Weng – seine Jugendliebe: Julia. Die hat sich mit ihrem Freund, einem Jäger, ein Leben in der Provinz aufgebaut. Doch kaum begegnet sie dem Ich-Erzähler erneut, vergisst sie ihren Freund und verfällt ihrer alten Liebe. Sie bleibt nicht die einzige.

Während seiner Recherchen begegnet er zwei Germanistik-Studentinnen, die wegen der Lesung eines bekannten Autors im Ort sind und sich bei der ersten Begegnung mit dem Erzähler in poetologischen Diskussionen verlieren, die Mulitzer nutzt, um reflexive Passagen in die Handlung zu montieren. Dieses Wechselspiel zwischen literarischem Bericht und poetologischen Ausschweifungen ist reizvoll und harmoniert mit dem unruhigen Erzählstil: „»Die wissen doch gar nichts von der klassischen Dramentheorie oder von Freytags Pyramidenmodell. Wie sollen denn die eine Geschichte erzählen?« / »Mein Großvater hat auch keine Ahnung von idealtypischen Erzählformen. Trotzdem kennt er die besten Geschichten.« / »Aber könnte er sie auch schreiben?« / »Wenn er sie so aufschreiben würde, wie er sie erzählt, wären sie perfekt. Mindestens so gut wie die von Tschechow.«“

Genau diese Geschichten des Großvaters lassen Mulitzer zur Höchstform auflaufen: „»Und der da?« / Ich zeigte auf den Mann auf den letzten beiden Fotos. / »Das war ein Arbeiter, glaube ich.« / Er überlegte. / »Die Gesichter kenne ich alle, aber manchmal weiß ich nicht, wo ich sie hintun soll. Der da wohnte im Armenhaus.« / Er zeigte auf den Maler. / »War er oft bei euch im Gasthaus?« / »Selten, er hatte ja kein Geld. Manchmal hat ihn jemand mitgebracht und dann seine Rechnung übernommen.« / »Der Autor?« / »Ich habe nie verstanden, was er von dem armen Schlucker wollte. Er hat auch die Rechnung von anderen beglichen, mit denen er redete. Ob er je eine Gegenleistung für seine Großzügigkeit bekommen hat, weiß ich nicht.« / »Kann ich die Fotos haben?« / »Lass dir Abzüge machen und bring sie mir wieder zurück.« / »Danke!« / Er griff sich wieder an den Kopf. / »Weißt du schon, was du machst, wenn du mit dieser Sache fertig bist?«“ Der Großvater wirft den Erzähler immer wieder auf seine Erkundung zurück – nach Thomas Bernhard, aber auch nach sich selbst. Stetig im Kontrast zu den anderen Bewohnern, zu seinem Großvater und zu sich selbst.

Tau erzählt somit immer weniger von Bernhard und immer mehr vom Großvater und den Träumen eines jungen Mannes. Bernhard dient Mulitzer als Fundament, auf dem er seine ganz eigene Geschichte aufbaut. Dabei klopft er alle losen Stellen ab, versucht lockere Schrauben festzuziehen, und die angekratzte Fassade eines Provinzorts näher zu untersuchen, bis er schließlich so etwas wie Heimat erlebbar macht.

Thomas Mulitzer Tau
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2017.
288 S.; geb.
ISBN 978-3-218-01080-1.

Rezension vom 31.10.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.