#Roman
#Debüt

Tatendrang

Theresia Töglhofer

// Rezension von Marcus Neuert

Utopien jenseits der Gurkenkrümmung

Eine Gruppe EU-institutionalisierter blutjunger Weltverbesserer scheitert an Intrigen, Ignoranz, Arroganz, Korruption und ihrer eigenen Naivität – und erreicht am Ende doch ihr Ziel mit einer spontanen Aktion. Ein fiktionalisierter Blick auf das real existierende Gestrüpp aus Stiftungen, NGOs und steuerfinanziertem Zynismus – Theresia Töglhofer weiß als langjährige Mitarbeiterin u. a. der Deutschen Gesellschaft für europäische Politik e.V., worüber sie schreibt.

Theresia Töglhofer, 1985 in Graz geboren, hat dort und in Paris Geschichte und Internationale Beziehungen studiert und war danach in Belgrad, Brüssel, Wien, Osijek und Berlin tätig. Sie ist Analystin für die Außen- und Erweiterungspolitik der EU. Ihre literarischen Aktivitäten haben ihr zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen eingebracht, etwa beim open mike, beim Klagenfurter Literaturkurs oder der Jürgen-Ponto-Stiftung. Im Residenz-Verlag erschien nun ihr erster Roman Tatendrang, in welchen sie – erstaunlich offen und kritisch – ihre politischen Erfahrungen einfließen ließ.

Die aus der steirischen Provinz stammende Hanna Fürst strebt eine Karriere in der Europäischen Außenzentrale der EU in Brüssel an und muss sich in einem viermonatigen unbezahlten Praktikum gegen eine starke Konkurrenz durchsetzen. Gleichzeitig ist eine möglichst konstruktive Zusammenarbeit mit genau jenen Menschen unabdingbar, die wie sie an die wenigen am Ende zu vergebenden Posten kommen wollen. Die Ich-Erzählerin Hanna wird zusammen mit Lej und Jakov, die aktiv in einer kleinen NGO sind, einem Projekt zur friedlichen Annäherung zweier verfeindeter Balkanstaaten zugeteilt, deren langfristige Perspektive eine Aufnahme in die EU sein könnte. Im Widerstreit der großen Visionen von Frieden, Gerechtigkeit und Wohlhabenheit für alle und den immerwährenden taktischen und strategischen Kleinkriegen mit über-und beigeordneten Instanzen und dem in seine Partikularinteressen zerfallenden Praktikumskollegium stellen sich bald Zermürbungstendenzen ein, die alle Beteiligten mehr und mehr ihre Handlungsspielräume, ihre Ziele und Motivationen hinterfragen lassen.

In einer Atmosphäre, in welcher konstruktiver Idealismus von Zustimmungsrankings und Beurteilungen der jeweiligen Vorgesetzten bis in kleinste Details abhängig erscheint, kann echte Innovation nicht mehr entstehen, sondern nur noch vorgetäuscht werden. Das System erscheint hoffnungslos in sich selbst gefangen. Die einst am langen Marsch durch die Institutionen Beteiligten, die Progressiven aus lange vergangenen Jahrzehnten, sitzen inzwischen sehr bequem auf abgabengepolsterten Pensionsfauteuils. Die Etablierten funktionieren wie es die gut geölte Maschine Europa von ihnen erwartet. Die Jungen, die nachkommen, sind oft aus guten Gründen wieder so geschmeidig wie Aal in Gelee. Beste Voraussetzungen für autoritäre Strömungen, für diejenigen, die anderen Angst machen, Freiheiten und Rechte vernichten wollen, weil es ihren eigenen Zielen nutzt.

Doch damit wollen sich Hanna und einige Gleichgesinnte nicht abspeisen lassen. Als ihr Projekt, eine Art Dauersymposium von jugendlichen Intellektuellen der beiden widerstreitenden Länder auf einer Flussinsel im Grenzgebiet einzurichten, von den politischen Ereignissen torpediert zu werden droht, gehen sie mit schonungslosen Statements an die Öffentlichkeit und riskieren mit der symbolischen Besetzung eines Leuchtturmes nicht nur ihre Karrieren, sondern auch ihre Gesundheit und ihr Leben.

Töglhofer eröffnet ein schon fast schulmäßiges Tableau an Figuren, die alle charakterlichen Merkmale und situativen Befindlichkeiten abdecken, welche für den Entwurf der EU-Maschinerie und ihre Funktionsweisen notwendig sind. Insbesondere versteht sie es meisterlich, mit ironischen Untertönen die neue und spezielle Generation EU-Praktikum und ihre pseudo-ikonisierte Lebensart zu hinterfragen:

„Cécile entschied sich für das Kimchi, Andrej und ich für das Schinken-Käse-Baguette. Ich, weil es das günstigste Essen war, Andrej vermutlich aus Prinzip. Wir querten den Platz, der früher ein Kreisverkehr gewesen war und jetzt ein living space.“ (S. 121/122)

Während die einen unablässig am fare bella figura in der Brüsseler Politschickeria arbeiten, gründen andere etwa eine Vogelschutzgruppe, um sich für die vielen gefiederten Opfer der EU-Glasfassaden-Architektur einzusetzen – und süffisant macht die Autorin klar, dass sich beides nicht ausschließen muss, sondern im Gegenteil zur Schau gestellte Empathie gerade ein besonders gutes Ergebnis auf der Punkteskala um Respekt und Anerkennung bedeuten kann.

Die Literarisierung der Kluft zwischen dem institutionellen Anspruch, Frieden zu stiften und die Menschenrechte umzusetzen einerseits sowie der knallharten Wirklichkeit rivalisierender Nationalismen und privater Befindlichkeiten andererseits verpackt Töglhofer nicht selten elegant in Detailbeschreibungen wie etwa in der Szene, in welcher Hanna und Lej den alten Insel-Leuchtturm zum ersten Mal betreten wollen:

„Endlich eine richtige Tür, dachte ich. Eine, die sich nicht durch eine Magnetkarte oder unsere bloße Anwesenheit öffnen ließ, und die, als sie schließlich aufschwang, ein ohrenbetäubendes Quietschen von sich gab.“ (S. 222)

Tatendrang ist der schwungvolle Romanerstling einer Autorin, die mit großem Schreibtalent und viel Hintergrundwissen eine Lanze bricht für einen Rest an utopistischem Glauben an die Wandlungsfähigkeit der europäischen Institutionen jenseits bürokratischer Gurkenkrümmungsverordnungen.

Andererseits führt Theresia Töglhofer ihrer Lesegemeinde aber auch vor Augen, dass es eine immerwährende Suche nach Interessenausgleich geben muss – mit diplomatischem Geschick, das oft bis an die Grenzen der Selbstverleugnung geht. Diese Suche gehört unverbrüchlich zu jenem Handlungskanon des Politischen, der auf lange Sicht immer noch am wirkungsvollsten zur Friedenssicherung beigetragen hat – auch wenn er mitunter als quälend und dysfunktional empfunden werden mag.

Marcus Neuert, geboren 1963 in Frankfurt am Main, Studium der Kulturwissenschaften an der FU Hagen, lebt und arbeitet nach langjährigen Stationen in Hessen und Baden-Württemberg als Autor, Musiker, Literaturkritiker und Kulturarbeiter in Minden/Westfalen und Coswig bei Dresden. Für seine Texte, die in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften sowie in mehreren Einzelpublikationen veröffentlicht wurden (zuletzt: Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen. Free Pen Verlag, Bonn 2018 sowie fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen. edition offenes feld, Dortmund 2021), erhielt er u. a. Auszeichnungen bei PostPoetry NRW (2014 und 2022), beim Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis (2017) und beim Lyrikpreis Meran (2021). Weitere Infos unter marcusneuert.jimdofree.com.

Theresia Töglhofer: Tatendrang
Roman.
Salzburg/Wien: Residenz Verlag, 2024.
256 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-7017-1789-7

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Rezension vom 13.12.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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