Olga Flor greift in ihrem zweiten Roman das Motiv des Aus-der-Welt-Seins auf. Die Figuren geraten aus dem eigenen topografischen Zentrum und finden sich an einem anderen Zustandsort wieder. Dieses Motiv hat meistens eine geschlossene Gesellschaft zur Folge, die sich, aus einem Fremdsein und Außenstehen heraus, neu konzipiert, und in der etwas Unvorhergesehenes und Ungewohntes passiert. So geschehen z. B. im „Decamerone“ von Boccaccio wie auch in Musils Novelle „Die Vollendung der Liebe.“ Beim einen schließt man sich aus der Gesellschaft aus, um der Natur (Pest) zu entkommen, beim anderen macht einem die übermächtige Natur (Schnee) das ersehnte Zurückkommen zunichte. Das Ungewöhnliche bei Flor: Es kommt zu nichts Ungewöhnlichem. Man hat sich im Griff.
Hier findet sich die Gesellschaft, ihrem Status entsprechend, in einer gemieteten, extra luxuriös hergerichteten Almhütte zu einem Familienfest zusammen, um den 60. Geburtstag der geistig erweckten, pseudopsychologischen Grete zu feiern. Grete, dynamisch und flexibel, achtet auf ihre Bedürfnisse (und peinlich genau auf die der anderen, die diese zu haben haben). Nachdem die Kinder Sabine und Thomas aus dem Haus waren, hat sie Kurse besucht und später Seminare gehalten, d. h. Managern den Sinn für das Wesentliche, das Einssein mit der Natur, Ausgeglichenheit und Optimismus gelehrt. Ihr Mann Ernst, Manager in der Autoindustrie, arbeitet permanent hart, auch in der Freizeit: mit Kugelbauch auf dem perfekten Fahrrad. Er ist der sichere Nährboden der Familie. Thomas, in Trennung lebend, reist mit drei jungen Musikern an, einer davon Artur, sein Stiefsohn. Die schweigsame, unzufriedene Sabine kommt mit ihren drei Kindern. Von Grete zur Festorganisation veranlasst und ebenfalls anwesend ist die Eventmanagerin Katharina, die frühere Geliebte von Thomas, die als Ich-Erzählerin fungiert.
In feinen, exakten Linien zeichnet Flor die Tristesse einer Familie, die, auf egozentrischem Selbsterfahrungstrip, die Bedrohung negiert und mit erlernter Verdrängungsstrategie, die gesellschaftlichen Formen wahrend, der Festessenszeremonie huldigt. Die heran befohlene Haushälterin trägt Butter vom benachbarten Bauern auf, die Tierseuche scheint einer anderen Welt anzugehören. Hier herrscht Friede und Ordnung – und Selbstkontrolle. Wer ein Familiendrama à la Thomas Vinterbergs Dogmafilm „Das Fest“ erwartet, wird enttäuscht. Was als Skandal provozieren könnte, das sexuelle Tätigwerden von Katharina und dem um rund zehn Jahre jüngeren Stiefsohn ihres Ex-Lovers, ist lediglich ein abwechslungsreiches Körperspiel aus dem Sumpf der Langeweile. Kaum ist der Samen geflossen, seine Frage: „Kann ich dein Handy haben?“
Es ist eine überfrachtete Konsumwelt, die vermeintliche Sicherheit bietet und dafür einen hohen Preis einfordert: Knochenarbeit am Körper, um ihn marktfähig zu halten: „Mein Äußeres und mein Auftreten sind integrale Bestandteile der Verkaufsstrategie“, sagt Katharina, die, wie Thomas, im Fitnesscenter gegen die Ausuferung ihres Körpers ankämpft. Auch der Körper gehört zum schönen Schein, der durch nichts Persönliches, Individuelles gestört werden darf: „Die Ungreifbarkeit meiner Person ist Teil der Dienstleistung.“ Anpassungsfähigkeit bis hin zur Selbstaufgabe: „Du arbeitest an dir, so lange, bis nichts mehr von dir übrig ist. Du hast die Ansprüche geschluckt, und die fressen ihren Wirt.“
Eros und Sinnlichkeit sind abhanden gekommen. Alles folgt der „Vernunft“ des Marktes und des Vermarktens. Grete profitiert blendend davon, dass andere von ihren „Erfahrungen“ profitieren. Sabines Schönheitssinn diente dem Erringen einer „schönen“ Familie, in welcher allerdings der Familienvater Albert aus Berufsgründen kaum noch anwesend ist. Wie in ihrem ersten Roman „Erlkönig“ dekonstruiert Flor ein tradiertes Familienbild, das nicht mehr haltbar ist. (So ist es nur folgerichtig, dass die Autorin den ihr zuerkannten parteinahen „frauen.kunst.preis 2004“ aus familien- und bildungspolitischen Gründen abgelehnt hat, anstatt ihn sich von der ÖVP-Bildungsministerin überreichen zu lassen.)
Die versuchte Flucht der drei jungen Männer aus dieser Scheinidylle bleibt vergebens, die (auch metaphorische) Schranke macht ein Entkommen unmöglich. Die anderen haben sich eingerichtet und sind längst – vor sich – in Scheinersatzwelten geflüchtet: Grete in die Esoterik, Ernst in den beruflichen Ehrgeiz, Sabine zu ihren sie daseinsberechtigenden Kindern, die sonst niemanden wirklich interessieren, Thomas in den Alkohol und Katharina zu ihrem zweiten Ich, das Selbstgespräche und konstruierte Dialoge führt, was an Streeruwitz‘ „Jessica, 30.“ erinnern lässt.
Flors Sprache ist detailgenau, distanziert und bedient sich archaischer Ausdrucksmittel. Sie ist, wie die Handlung und die Figuren (abgesehen von Arturs Zungenring, der aber systematisch integriert und ignoriert wird), aalglatt. Die Form unterstreicht den Inhalt. Es gibt nichts Diametrales, kein Entkommen. Wer sich auf dem Beziehungs-, Konsum-, Körper- und Arbeitsmarkt nicht beeilt, bleibt auf der Strecke: „Wir ziehen unsere Leiterwägen durch den freien Markt. Die feindliche Übernahme des Geistes durch die Maxime der wirtschaftlichen Verwertbarkeit hinterlässt eine Leere, in die wir vorstoßen können. In der wir mit unseren Angeboten gerade recht kommen, wenn wir uns beeilen.“