#Roman
#Debüt

Tagwache

Jakob Pretterhofer

// Rezension von Günter Vallaster

Kaum ein Wort ist so einschnürend eng festgelegt wie Tagwache: Es ist laut, trägt Uniform und erschallt des Morgens durch die Kasernengänge. Liedgut von Wolfgang Ambros stellt sich assoziativ ein, auch Szenen aus dem Film „Ich gelobe“ von Wolfgang Murnberger aus dem Jahr 1994, der vom tristen militärischen Alltag eines Präsenzdieners in Ostösterreich im Jahr 1980 handelt. Auch Jakob Pretterhofers Romandebüt spielt an der österreichisch-ungarischen Grenze und zeigt, dass sich 23 Jahre später nichts geändert hat, bis auf die Verschiebung der Bedeutung von „Ostgrenze“ von Ostblock zur damals noch EU-Außengrenze, was für den Alltag aber nichts zur Sache tut. Und es sei vorausgeschickt, dass sich Pretterhofers Roman nahtlos in die Reihe der genannten Beispiele ausdrucksstarker künstlerischer Verarbeitungen des Militärs einfügt.

Die Hauptfigur ist eine Truppe, angeführt von Wachtmeister Robert Hütter, der das Buch gleichsam eröffnet und dem im weiteren Verlauf nach und nach die ihm zugeteilten Rekruten folgen: Zunächst werden weite Passagen des Romans der Perspektive des Rekruten Lampl gewidmet, der durch Ungeschicklichkeiten immer mehr zum Bullying-Opfer wird und sich in der Hackordnung ganz unten wiederfindet. Er sieht sich psychischen und physischen Qualen der schlimmsten Art ausgesetzt und als in einem Zwist unter seinen Rekrutenkollegen auch mal das Wort „Zecke“ fällt (66), wird bei der Lektüre auch der Verdacht auf Neonazi-Affinität zumindest eines Rekruten genährt. Lampls Wehrdienstkameraden und Zimmerkollegen treten immer deutlicher nicht nur als sein Umfeld, sondern auch als Figuren auf: Ungerhofer („Stinki“), Tadic („Quotenneger“), Obkircher („Herr Doktor“), Marschall und Konrad (wie Lampl mit dem Spitznamen „Maturant“ bedacht), Primig (von Lampl „Don Juan à la Prolo“ genannt), Sauper („General Saubär“), Leitgeb („Forrest Rambo“), Pfeifenberger („Freakshow“) (40).

Detailreich und präzise, stellenweise fast wie mit einer Schrittzähler-App aufgezeichnet, wird die durchreglementierte Kasernenwelt dargestellt und damit der absolute Stillstand beklemmend eingefangen. Eine schillernd-trostlose Zweifarbigkeit, „Feldgrün“ (14) und Grau, zieht sich wie ein Uniformfaden oder „gräulich-grüner Schimmel“ (73) durch das Buch. In diesem genauen Blick gibt sich auch der bereits mehrfach ausgezeichnete Filmschaffende Pretterhofer zu erkennen. Mit der konsequenten Verwendung militärischer Uhrzeitangaben wie „zwanzighundert“ (27), „fünfzehnhundertfünfundzwanzig“ (66) oder „nullsechshundert“ (93) entsteht der Eindruck, als würde die Zeit nicht in Sekunden, Minuten und Stunden, sondern in Jahrhunderten vergehen.

An den Wochenenden treten die Protagonisten mit Vornamen auf, die Menschen hinter den Kasernenfassaden werden sichtbar. Aus Wachtmeister Hütter wird Robert, der beispielsweise mit seiner Frau Antonia und im Kreise seiner Verwandten grillt und Späße macht. Im Dienst hart und auf genaueste Einhaltung der Vorschriften erpicht, aber nicht unbedingt ein brutaler Schleifer, macht er sich privat Vorwürfe, ob gerade deshalb seine Truppe aus dem Ruder zu laufen droht. Schließlich war mit Rekrut Krainer auch jemand aus seiner Truppe tot in einem Hochsitz aufgefunden worden. Aus Lampl wird Thomas, der versucht, die Beziehung zu seiner ersten Freundin Mirjam aufrecht zu erhalten. Der Militärdienst ist für ihn etwas, das hinter sich gebracht werden muss und nur wegen der kürzeren Dauer dem Zivildienst vorgezogen wurde. Sauper verbringt sein Wochenende mit Fußball und seinem Vater. Leitgeb findet als Christoph mit Mopedreparatur seine Glückseligkeit. Ungerhofer, Student in spe, versucht als Maximilian bei elterlichem Zwiebelrostbraten und Wäschewaschenlassen sowie Filmen wie „Halloween 2“ „alle Gedanken an das Bundesheer zu vermeiden“ (105). Tadic verfasst als Milan antifaschistische Aussendungen. Primig laufen als Andi Frauen nach, ohne dass er selbst etwas dazutun müsste. Marschall liegt als Jürgen im Militärspital. Obkircher versucht als Lukas die seit der Trennung von seiner Freundin vorherrschende Langeweile mit ehemaligen Schulkollegen zu vertreiben. Pfeifenberger ist als Rupert am Bauernhof eingespannt und wird vom Großvater angeschrien. Konrad verbringt als Alexander die Zeit mit Freundin Jackie und erlebt seine Zahnarztmutter ständig mit dem Bohrer in der Hand. Allen gemeinsam ist das Wochenende als Fluchtburg vor dem Drill und den Schikanen, auf der möglichst lange, im Extremfall bis kurz vor Dienstantritt am Montagmorgen verblieben werden will.

Schließlich läuft jemand Amok. Schüsse fallen im Morgengrauen an einer Tankstelle. Der Täter trägt Uniform. Ab diesem Moment zeigt Pretterhofers Roman auf eindringliche Weise, wie sehr die zuvor mitreißend beschriebenen Fassaden der minutiösen Regelmäßigkeit und gleichsam als Selbstzweck hochgehaltenen Ordnung des Militärdienstes, derentwegen viele, darunter auch Wachtmeister Hütter, diesen Arbeitsplatz überhaupt wählen, einem Kartenhaus ähneln, das mit allen Mitteln zusammengehalten wird. Plötzlich ist jeder verdächtig und nach Auswertung von Videomaterial und Befragungen bleibt ein Kreis einiger weniger, schließlich ein Hauptverdächtiger übrig, der es aber möglicherweise doch nicht war. Wer dahintersteckte oder auch nicht, sei selbst nachzulesen sehr empfohlen, vor allem auch, was dahintersteckte. Dem Autor gelingt es vortrefflich, den Spannungsbogen bis zum Ende seines 224 Seiten starken Roman-Protokolls zu halten und mit bilderreichen Schilderungen diversester Ab- und Zurichtungen auszukleiden.

Mit Tagwache legt Jakob Pretterhofer einen beeindruckenden Roman über den deformierenden Einfluss des Militärs auf das männliche Coming of Age vor.

Jakob Pretterhofer Tagwache
Roman.
Wien: Luftschacht, 2017.
224 S.; geb.
ISBN 978-3-903081-09-3.

Rezension vom 28.03.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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