Ersteres kann sogleich beantwortet werden: Es gibt keine Erzählerinstanz, nur dann und wann mischt sich wie aus Versehen eine kommentierende Stimme in die penible Beschreibung von urbanen und stadtnahen Landschaften, deren Konturen und architektonische Strukturen aus vorgängigem Bild- und Kartenmaterial in eine komplexe, durchkomponierte Sprache sozusagen analog übertragen werden.
Diszipliniert und selektiv tastet die Beobachterin Aufnahmen ab, die offenbar aus einem Ausstellungskatalog stammen, und verfasst kurze Textbausteine, die mit imaginierten Streifzügen durch eine neuseeländische Stadt und zu anderen (Schau)Plätzen montiert werden. Ein Stadtpark, in dem ein Bagger seine Schaufel ins Erdreich gräbt, wird vom Kameraauge ebenso erschlossen wie ein Naturpark, dessen Anmutung sich unter dem wechselnden Einfluss der Witterung kontinuierlich erneuert.
Statt Geschichten zu erzählen oder mindestens anzudeuten, gelingt es der Autorin in höchster Selbstzucht, detailgetreu zu beschreiben, was ist, wobei gerade das Überflüssige den effet de réel bzw. Wirklichkeitseffekt erzeugt, um mit Barthes zu sprechen.
Bei Seidlhofer kehren die Dinge zu ihrem oft trivialen An-sich zurück, weil sich die Autorin jeglichen Lyrismus, ja selbst die geringste emotionale Beteiligung verbietet. Auf diese Weise wird die sinnlich wahrnehmbare Welt dem Rezipienten in ihrem Rohzustand übergeben, was durchaus Verwirrung stiften kann. Denn in Wahrheit wird auf hohem Niveau Natürlichkeit vorgetäuscht, wo letztlich Künstlichkeit waltet. Das Arrangement der Textfragmente, der Wechsel von Kursiv- und Normaldruck, das Betreten und Verlassen der Stadt, der Ausstellung usw. fügen sich zu einem Ganzen, das die ordnende Hand der Schöpferin nicht zu leugnen vermag.
Ausgehend von retrospektiv besuchten Landschaften, die im Spannungsfeld von Natur und Kultur liegen, sucht Seidlhofer der für den ästhetischen Diskurs zentralen Frage von Sein und Schein, von Wirklichkeit und Kunst in ihrem Schreiben nachzuspüren. Im Gegensatz zum landläufigen Kunstbegriff nimmt die Verfasserin von Tage, Passagen nicht mehr die Objekte als Vorlage, sondern ihre Abbildung. In diesem Sinne führt das vorliegende Textmosaik fort, was mit Magrittes Ceci n’est pas une pipe begann, und das Ergebnis verblüfft: An der Grenze von Semiotik, Literatur und bildender Kunst zieht Seidlhofer ihre eigenwillige, überaus philosophisch angereicherte Sprachspur, die sich selbst über die schmerzende Schreibhand legt, um von ihr abstrahierend das Leiden ein weiteres Mal auf Computeranimationen erfahrbar zu machen. Es ist dies „ein faszinierendes spiel von grosser aesthetik“, in dem mit äußerster sprachlicher Präzision die ästhetische Moderne mit ihren Verwerfungen problematisiert und exemplarisch dargestellt wird.
Die Autorin liefert mit dieser atypischen „stadterfahrung“ aber auch einen originellen Beitrag zum Begriff des „Flaneurs“ bzw. der „Flaneurin“, die sich in Zukunft vielleicht damit begnügen werden, durch virtuelle Räume zu schlendern. Doch in diesem Punkt übertrifft die Literatur wahrscheinlich die Wirklichkeit.