#Sachbuch

Syphilis in der Literatur

Anja Schonlau

// Rezension von Alfred Pfabigan

Die „großen“ Krankheiten sind für die von ihnen betroffenen Gesellschaften nicht nur eine faktisch Leben und Tod bestimmende Kraft, sondern intervenieren auch in deren Kultur. Schon im Titel ihres bekannten Essays hat Susan Sontag – etwa an Hand von Tuberkulose und Krebs – die These aufgestellt, dass vor allem solange ihre Ursachen ungeklärt sind, diese Krankheiten im Diskurs als Metapher für sehr unterschiedliche Positionen dienen können – die Annahme von den ungesunden Wohnverhältnissen der Arbeiterklasse als Ursache der Tuberkulose förderten etwa die sozialdemokratischen Parteien.

Auch die Syphilis war eine derart „große“ Krankheit. Die Neuzeit beginnt gewissermaßen mit der nahezu zeitgleichen Entdeckung eines vorerst rätselhaften Kontinents und einer zunächst ebenso rätselhaften Erkrankung. Haben die Europäer diese Infektionskrankheit ins neuentdeckte Amerika geschleppt, oder sie von dort in ihre Heimatländer importiert? Die Frage ist nie definitiv beantwortet worden, in jedem Fall beginnt die – wenn man von der fragwürdigen Quecksilberkur absieht -, Jahrhunderte lang unheilbare Krankheit um 1500 ihre Schreckensherrschaft, die bis ins zwanzigste Jahrhundert währt: 1909 entwickelt Paul Ehrlich das Salvarsan, 1943 entdeckt Alexander Fleming das heilende Penizillin.

Anja Schonlau beginnt ihre voluminöse Monographie über die Präsenz der Syphilis in der Literatur mit einem Bericht über die vielfältigen gesellschaftlichen Verarbeitungsformen der Krankheit in Europa von der Renaissance bis zur Moderne, der über das unmittelbare Thema ihrer Studie hinaus interessant ist. Es ist erstaunlich, was der Diskurs über die Syphilis alles transportiert hat – kaum eine der grundsätzlichen gesellschafts- und kunsttheoretischen Fragen, die nicht sozusagen einen Ausläufer in diesem Diskurs hatte. Schon über den Ursprung ist man sich uneinig – was den Deutschen die „Franzosenkrankheit“ ist, gilt in Frankreich als „spanische“ Krankheit, in Polen als „deutsche“ und bei den Japanern als „chinesische“ Erkrankung. Schonlau zeigt, dass in der Renaissance eine erste, relativ lang anhaltende Fixierung der Themenschwerpunkte vorgenommen wurde, die sich erst parallel zur Industrialisierung und zum Entstehen einer modernen Medizin veränderte. Als Metapher lässt die Syphilis extrem viele Bedeutungen zu: zunächst kann sie und ihre Schrecknisse kollektiv abgewehrt werden – etwa indem man sich über sie lustig macht – oder sie kann besprochen werden. Wird sie besprochen, dann werden regelmäßig fundamentale Fragen der sozialen Organisation und der jeweiligen Ideologien abgehandelt. Manche deuten sie als ein dem Opfer von außen auferlegtes Schicksal, manche als persönliche Schuld und als Folge einer Verletzung der Moral. Bei Shakespeare war sie Symbol für die allgemeine Verrottung der Gesellschaft, doch das ihr innewohnende denunziatorische Potential kann sehr unterschiedlich eingesetzt werden: Sie kann als Krankheit des Hofes gesehen werden oder als ein Leiden, das für einen vertierten Soldatenstand charakteristisch ist; sie kann das Verächtliche repräsentieren oder einen ganz speziellen, durch die Krankheit inspirierten Geistesadel. Man kann sie frech ignorieren oder aber das mit ihr verbundene Bedrohungsgefühl als Motiv für sexuelle Abstinenz nehmen. Und schließlich stellt sich von Anfang an zwischen den Geschlechtern die Frage, wer wen infiziert hat – ein italienischer Gelehrter war etwa davon überzeugt, die „gewöhnliche Frau“ habe immer Syphilis.

Die Frage der Schuld bekam eine besondere Brisanz ab dem Zeitpunkt, als soziobiologische Begriffe wie „Degeneration“, „Entartung“ und „Vererbung“ Konjunktur hatten. Phantasien von einer kreativen Dekadenz koexistierten mit solchen von der rassischen Gesundheit und dem „Judenjungen“, der das arische Mädel mit Absicht infiziert bzw. der verseuchten jüdischen Prostituierten. Die „vererbte Syphilis“, eine Folge der „väterlichen Ausschweifung“, wurde ein wichtiges Instrument der Kritik an einer korrupten patriarchalischen Gesellschaft, bis sie von der „modernen“ Medizin und ihrer Annahme einer bakteriell induzierten Erkrankung abgelöst wurde.

Wie unterschiedlich das neunzehnte und das zwanzigste Jahrhundert mit der Syphilis umgegangen sind, demonstriert Schonlau zunächst an zwei Fallstudien: der Rolle einer möglichen Erkrankung in den Biographien über Lenau und Nietzsche. In diesen gut ausgewählten Beispielen zeigen sich drei verschiedene, zeitlich abgrenzbare Haltungen: Verleugnung, Zuschreibung einer geheimnisvollen Bedeutung und schließlich – nach der Erfindung des Penicillins – eine Art Normalisierung: die Syphilis wird zu einer von vielen möglichen Todeskrankheiten. Der Folgeteil konzentriert sich unmittelbar auf die Syphilis als literarisches Thema von Ibsens „Gespenster“ bis Peter Härltings Lenau-Roman „Niembsch oder der Stillstand“. Schonlau ist offensichtlich um Vollständigkeit bemüht, einige der von ihr akribisch interpretierten Werke sind wohl nur Kennern bekannt. Ein notgedrungen fragmentarischer Schlussteil leitet über zur Literarisierung von Aids als „Nachfolgekrankheit“ der Syphilis, etwa in Irene Disches Roman „Ein fremdes Gefühl“.

Anja Schonlau Syphilis in der Literatur
Über Ästhetik, Moral, Genie und Medizin (1880 – 2000).
Würzburg: Königshausen und Neumann, 2005.
572 S.; brosch.
ISBN 3-8260-2781-7.

Rezension vom 15.07.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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