In fünfzehn Kapiteln entfalten sich Szenen aus und rund um das Leben des Südtiroler Zimmermanns / Dichters Sültzrather. Dabei ist jedes Kapitel ein Kunstwerk für sich, in dem sich die Sprache aufbaut und entwickelt ähnlich einem Musikstück. Und doch sind die Kapitel miteinander verbunden, tauchen Personen, Motive und einige Sätze an verschiedenen Stellen auf und verschwinden wieder.
Die Kapitelüberschriften, z.B. „Spieleröffnung mit schuhen“, „Flur, friedhofsmauer; oder was uns nicht trennt.“, „Alptraumdohlen“, „Unterdererde (oder: sperrgebiet)“ haben meist noch Untertitel, außerdem ist jedem Kapitel mindestens ein Zitat voran gestellt.
Ins Auge springt zum einen die durchgehende Kleinschreibung. Lediglich Namen und Begriffe in Zitaten werden groß geschrieben. Zum anderen gibt es zahlreiche Fußnoten, die bis zur Hälfte einer Seite einnehmen können. In einigen Kapiteln finden sich typographische Hervorhebungen oder in den Fließtext eingeschobene Gedichte. Es ist ein Buch mit zahlreichen Verweisen und Zitaten aus realen und fiktiven Quellen. Ein Text, der über große Teile im Konjunktiv steht und aus verschiedenen Perspektiven erzählt.
Im ersten Kapitel „Spieleröffnung mit schuhen (auch: Indroductio calcei. Gerücht)“ erfährt man: „Der aibelner dichter Vitus Sültzrather, mittlerweile bekannt wie ein bunter hund, nämlich, sagt F., wer kenne schon einen buten hund, der habe nach seinem sturz vom baugerüst im mai neunundfünfzig und der darauffolgenden querschnittlähmung bzw. der darauf folgenden lebenslänglichen verbannung in den rollstuhl -, wie Francesco Petrarca oder Thomas Bernhard habe Vitus Sültzrather danach ein wachsendes faible für schuhe entwickelt.“ (S. 9)
In den Fußnoten dazu wird die Vorliebe Thomas Bernhards für Schuhe ebenso belegt wie genauestens beschrieben, wo die Ortschaft Aibeln liegt, nämlich im Südtiroler Eisacktal, westlich von Klausen. Der Ort mit seinen, laut Fußnote, 238 Einwohnern ist allerdings ebenso fiktiv wie die Figur Sültzrathers an sich.
Dies wird spätestens im dritten Kapitel „Sie können das letzte werk Sültzrathers abholen“ klar, in dem Sültzrather als vergessener Dichter beschrieben wird:
„Als ob es ihn, den einmal vergötterten – und es ist noch nicht einmal ein halbes jahrhundert her, daß, wie es einer einmal formuliert hat in einem essay, wer damals Kafka gesagt habe, noch Sültzrather angehängt hat; und wer Sültzrather gedacht habe, Joyce und Proust gleich mitgedacht – , als ob es ihn, den einmal ‚vom Lesevolk verhimmelten‘, nie gegeben habe.“ (S. 27f)
Als vergessener Dichter beginnt Sültzrather die von ihm geschriebenen Sätze vermehrt durchzustreichen und schließlich mit einem Militärmesser abzuschaben, um damit ein gewissermaßen „makelloses Werk“ zu erschaffen.
Davor, im zweiten Kapitel „Selbstporträtporträts. Versuch einer antwort, mit der geschichte von T.“ wird gewissermaßen analog dazu über Selbstporträts philosophiert und von T. erzählt, der versucht sein Gesicht – bis hin zur Selbstverstümmelung – seinem Selbstporträt anzupassen:
„Der fall ist: Ob, wenn einer sein selbstporträt porträtiert, die wahrheit eher sich aus dem porträtierten schälte als im originären selbstporträt? Der fall ist, ob: Wenn einer alles, was jenem ersten eigenmaler ganz selbstverständlich wichtig war: die augen-, ohren-, nasenzüge, der mund, das kinn und alles, was er als gesicht zusammenschaut; wenn einer alles das, was einer braucht, um sich gesetzesmäßig auszuweisen: das, was in pässen unverschleiert ist; wenn einer alles, woraus wir den haß die liebe lesen, die hintertücke und die freundlichkeit; wenn einer all das wegließ, wenn einer nichts nahm als die form um das verschwundene gesicht, ob einer dann sich selbst doch eher ähnlich war?“ (S. 22f)
Andere Kapitel drehen sich um eine Italienreise Sültzrathers, um seine Kindheit, um das Motiv der Arche und „Die geschichte von Bezalel, der im schatten Gottes ist.“, um den „altenheiminsassen“ R., um Europa oder um das Thema Krieg, letzteres durchzogen von Ausschnitten aus Ernst Jandls „schtzngrmm“.
Im Kapitel „Sültzrather hätte nie in pension gehen wollen. Oder: Der anfang hört immer mit dem ende auf“, sind Textstellen aus Sültzrathers Notizbuch Nr. 4 wie eine zweite Stimme hineinmontiert. (vgl. Textausschnitt)
Hier meldet sich in einer Fußnote schelmisch die Erzählstimme, vielleicht sogar die Stimme des Autors zu Wort: „Alle folgenden sültzratherschen sätze, ob wörtlich zitiert oder nicht, findet einer, soweit nicht anders vermerkt, in diesem vorletzten notizbuch des aibelner dichters – genauer: zwischen den seiten 117 und 168. Daß ich im folgenden auf eine genaue Seitenangabe verzichte, möge man mir nachsehen; doch vielleicht verführe ich manch einen so ja zu einem nachlesen, nachschauen; denn es lohnt sich allemal, glauben Sie mir.“ (S. 115, Fußnote 135)
Einen Höhepunkt stellt das vorletzte Kapitel dar: „Genovefa S. und die leerstellen des glücks. Oder: Hinter der stadelwand das paradies“.
Bei der „Kalber Genovefa“ handelt es sich um die jüngste Schwester von Sültzrather. Sie hatte in der Kindheit ein besonders inniges Verhältnis zu ihrem Bruder: „Wie kletten haben wir uns ineinander verhakt.“ (S. 146)
Wie innig, daran erinnert sich die Kalber Genovefa „Mit dem rücken gegen die wand“, nämlich gegen die Wand der Schlafkammmer gelehnt, die sie als Kind mit dem Bruder geteilt hat und hinter der der Stadel lag. In diesem Stadel, so erinnert sie sich, haben die beiden nicht nur miteinander gespielt, sondern auch Sexualität ausgelebt. So wurde sie nicht nur „erinnerungsschwanger“, sondern tatsächlich schwanger: „ihr schädel, so sei ihr vorgekommen, habe sich gedehnt wie ihr bauch, als – „mein gott, dieses einzige mal!“ – ihr ein kind gewachsen sei da drin: Mein Roland, der, kaum war er draußen in der welt, schon wieder verschwunden ist in diese verfluchte erde hinein!“ (S. 151)
Sie sitzt nun mit dem Rücken zu ihrem „erinnerungsparadies“ und fragt sich:
„Denn wenn ich mich löste von der wand, bleicht dann die stadelerinnerung wieder aus, dämmerte mit dem tag hinein in die nacht? Wenn ich mich vom stadel entfernte, verschwände dann, allmählich, auch mein erinnerungsparadies? Fiele dann auch dieses erinnern dem vergessen anheim? Oder wenn sie in den stadel ginge, in den sie ja seit jahrzehnten keinen fuß, verdrängt das dort gegenwärtige dann das vergangene – oder bewahrte es sich darin auf, wäre so jederzeit da in jeder gegenwart?“ (S. 153)
Genovefa fleht ihren Bruder an, über diese Erinnerung zu schreiben, sie zu konservieren, doch er schweigt, schickt sie fort und lässt den Stadel abreißen.
Doch, so wird in einer Fußnote erwähnt, notiert er anschließend in sein Tagebuch: „Und wenn all die Räume der Erde voll wären mit Erinnerung? Oder die Erdatmosphäre ein Erinnerungsspeicher, den anzuzapfen wir noch nicht imstande sind? Und wir atmeten wie Luft fremde Erinnerungen ein, ein Leben lang?“ (S. 155, Fußnote 179)
Im letzten Kapitel „Und die andere arche (festungsbau) oder: Das verschwundene taubenpaar“ wird erzählt, dass Sültzrather sich eine Arche habe bauen lassen, in der er meist den ganzen Tag verbringt und letztlich auch stirbt.
„In seiner holzpalettenarche sei der Kalber Vitus gestorben, ja; und vielleicht, ja, man erzähle ja nur nach, vielleicht hat er auch selber nachgeholfen“. (S. 168)
Auch F., der immer wieder im Text auftaucht, aber im Personenverzeichnis lediglich mit diesem Buchstaben vermerkt ist, verbringt nach dem Tod Sültzrathers sieben Tage und sechs Nächte in der Arche und schreibt darüber einen Journaleintrag.
„Er könne sich nicht mehr erinnern, sagt F., was dann geschehen sei; diese wenigen sätze, das sei alles, was ihm vom aufenthalt in der arche Vitus Sültzrathers geblieben sei, die tage in der arche seien wie ausgelöscht, wie abgeschabt.“ (S. 175)
Das Buch endet mit dem Verschwinden der Arche: „Vitus Sültzrathers arche bleibe verschwunden, sagt F.; niemand habe ihm sagen können, wo sie geblieben, was mit ihr geschehen sei.“ (S. 176)
Es ist also ein Buch über das Erinnern und das Verschwinden der Erinnerung, ein Buch über die Frage, was am Ende von einem Leben übrigbleibt. Die Figur des Dichters / Zimmermanns / Nicht-Lehrers Sültzrather, auf den der Autor übrigens schon 2001 einen Nachruf verfasst hat, dient dabei als Gefäß für die Erinnerung, das immer neu gefüllt wird und am Ende gleichermaßen leer wie voll zurückbleibt.
Wer einen Roman mit klassischen Handlungssträngen erwartet, wird enttäuscht und überfordert sein, doch wer gerne in das Meer der Sprache eintaucht, wird die ungewöhnliche Welt bewundern, die sich zwischen den schön gestalteten Buchdeckeln verbirgt.
Ein geheimnisvoller, eindringlicher, dichter, kunstvoll gebauter, poetischer Text mit polyphonen Erzählstimmen, Collagen, Zitaten, aufwühlenden Geschichten und philosophischen Gedanken in vielfältiger Sprachgewalt.