#Sachbuch

Sucher und Selige. Moralisten und Büßer

Alfred Kerr

// Rezension von Jürgen Egyptien

Von Alfred Kerr ist 2009 im Rahmen der Werke in Einzelbänden unter dem Titel Sucher und Selige, Moralisten und Büßer der von Margret Rühle und Deborah Vietor-Engländer herausgegebene vierte Band erschienen, der über fünfzig ‚Literarische Ermittlungen‘ aus der gesamten Schaffenszeit des Autors enthält. Der Bogen spannt sich von Kerrs erster Veröffentlichung aus dem Jahr 1887, in der der neunzehnjährige Gymnasiast ein kritisches Porträt von Lessings Widersacher Balthasar Ludwig Tralles entwirft, auf den er in der Bibliothek seiner Heimatstadt Breslau gestoßen war, bis zu einem kurz vor dem Selbstmord am 12. Oktober 1948 geschriebenen Artikel, der seine ebenfalls sechzig Jahre währende Beschäftigung mit Leben und Werk von Gerhart Hauptmann resümiert.

Die Texte werden in der Regel nach dem Erstdruck in Zeitungen und Zeitschriften geboten, unter denen Der Tag und das Berliner Tageblatt sowie die Neue (Deutsche) Rundschau am häufigsten vertreten sind. Der Band bietet jedoch auch eine ganze Reihe von Erstdrucken aus dem Nachlass, unter denen sich eine Rundfunkrede über Jean Paul, ein Nachruf auf James Joyce und ein Vortrag zu Thomas Manns 70. Geburtstag befinden. Geburts- und Todestage, Besuche und Nachrufe, Festschriften und Reden lieferten zumeist die Anlässe für Kerrs hier dokumentierte Texte. Dazu gesellen sich ein paar Rezensionen und ein Auszug aus seiner Dissertation über Clemens Brentanos ‚verwilderten‘ Roman Godwi, die 1898 im Verlag Georg Bondi erschien.

Günther Rühle, Mitherausgeber von Kerrs Werkausgabe, hat den ‚Literarischen Ermittlungen‘ ein informatives Nachwort beigefügt, in dem er zu Recht darauf hinweist, dass die deutsche Romantik für Kerr eine Quelle seines Schreibens geblieben ist. Unter den zeitgenössischen literarischen Strömungen wird der junge Kerr vor allem vom naturalistischen Drama (Hauptmann) und Roman (Zola) sowie vom österreichischen Impressionismus (Hofmannsthal, Schnitzler, Musil) angezogen. In dem 1892 veröffentlichten Aufsatz Perspektiven der Litteraturgeschichte hatte Kerr als das Ziel einer zeitgemäßen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur die „Kennzeichnung des menschlichen Seelenlebens“ (S. 350) erklärt, wobei der Dichter bis in seine „wirtschaftlichen Motivationen“ hinein als „beobachteter Gegenstand“ fungiert. In diesen Formulierungen zeigt sich sehr schön die Verquickung von positivistischer Beobachtung und impressionistischer Psychologie. Noch 1905 definierte Kerr sein Verständnis von Literaturkritik ganz ähnlich am Ende eines Beitrags über George: „Das ist ja die Aufgabe großer Kritik in diesen Zeitläuften; nicht Strömungen verfolgen: sondern Seelen zergliedern; nicht Bewegungen darstellen: sondern den Kern eines Menschen auf eine bleibende Art festhalten.“ (S. 131) Mit dieser Akzentsetzung erweist Kerr sich als prädestinierter Leser für Autoren wie Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal oder Robert Musil. Für den zuletzt Genannten war Kerr von großer Bedeutung, da erst durch seinen zähen Einsatz Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 1906 vom Wiener Verlag angenommen wurden. Kerrs begeisterte Besprechung des Textes, an dessen Gestalt er mitgewirkt hatte, verschaffte Musils Debütroman und seinem Autor nachhaltige Aufmerksamkeit.

So sehr sich Kerr in seiner Rezension durch die Sensibilität für die seelischen Introspektionen und psychologischen Nuancierungen als der ideale Leser von Musils Roman erweist, so sehr tritt aus heutiger Perspektive auch die Begrenztheit von Kerrs kritischer Methode an ihr zu Tage. Wofür ihm das Sensorium weitgehend fehlte, war das im engeren Sinne Ästhetische. Es ist bezeichnend, dass in der zitierten Definition von Kritik der Begriff Kunst nicht vorkommt, an Formproblemen zeigt sich Kerr wenig interessiert. Da, wo er in kritischen Texten über Dramatik – wie in seiner Abrechnung mit Sudermann – auf ästhetische Fragen zu sprechen kommt, führt ihn sein Gefühl für Echtes, für authentische Figurenrede zu sicheren Urteilen. Aber die Rede zu Hauptmanns 60. Geburtstag dekouvriert die begriffliche Ohmacht ihres Verfassers. Kerr bringt sein höchstes Lob in einem stammelnden Bekenntnis vor, dessen Vorhersagen lange widerlegt sind. Ihm fehlt ein analytisches Instrumentarium, und weil ihm daher auch die Methoden der Sprach- und Ideologiekritik nicht zu Gebote stehen, fällt er 1933 aus allen Wolken, als sein Idol, das bereits zuvor auf Distanz zur Republik gegangen war, politisch versagt. Seine mutige öffentliche Absage an Hauptmann vom Oktober 1933 rationalisiert die ‚Schande‘ des Dramatikers durch ihre Herleitung aus materiellen Zwängen. Kerr bleibt damit dem quasi positivistischen Segment seines Kritikverständnisses treu, verstellt sich aber die Einsicht in Hauptmanns Partizipation an politisch prekären bewusstseinsgeschichtlichen Prozessen.

In etlichen Fällen wird man sagen müssen, dass Kerrs Texte am Wesentlichen der von ihm behandelten Autoren vorbeigehen oder es verzeichnen. Diese Fehlleistungen unterlaufen ihm besonders im Umgang mit Lyrikern. Am Klarsten lässt sich das an den Texten über George und Hölderlin ablesen. Der als Porträt angelegte Aufsatz Der steile Stefan hebt mehrfach das Fehlen von Liebe und Hass in Georges Dichtung hervor und betont das Temperierte seines Gefühls. Auch wenn 1905, als Kerr diesen Artikel publiziert, noch nicht die paränetischen Zeitgedichte des Siebenten Rings erschienen sind, enthielt das bis dahin zugängliche Werk Georges eine erhebliche Zahl von Gedichten, die an der Unbedingtheit der intensiven Gefühle Liebe und Hass keinen Zweifel ließen. Ebenso unzutreffend ist Kerrs Situierung von Georges Stimmungswerten „im fahl-hellen Licht eines Nordens“ (S. 128). Gerade das bis 1905 entstandene Werk steht ausdrücklich im Zeichen südlicher Form und Transparenz. Das gilt für die dominanten Sujets wie für die lyrischen Vorbilder und die ästhetischen Formprinzipien. Es gilt in gleichem Maß für George selbst, der zahlreiche Reisen in die Romania unternommen und eine tiefe Wahlverwandtschaft mit der Strenge und Herbheit Spaniens verspürt hat. Charakterisierungen wie: „Manchmal fühl‘ ich ihn durch die Welt schreiten im seligen Groll des Unerkanntseins; im nagenden Glück der Verbannung; in düsterer Freude nichtbeachteten Stolzes“ gefallen sich nicht nur in gesuchten und leeren Paradoxien, sie verraten auch eine völlige Ahnungslosigkeit in Bezug auf Georges von Beginn an raffinierter Medienpolitik, die Klandestinität und Dandyismus gezielt als unverwechselbares Label in der literarischen Öffentlichkeit lancierte.

Kaum tauglich sind auch Kerrs Auslassungen zu Hölderlins 150. Geburtstag. Wenn er dem ‚blassen Friedrich‘ ein authentisches Griechenland „voll Gedränges, voll frischen Frühlärms, voll Knoblauchdufts“ (S. 196) glaubt entgegenhalten zu müssen, entlarvt sich darin die vollkommene Fremdheit Kerrs gegenüber den dichterischen Intentionen Hölderlins. Kerr nennt ihn als Liebenden einen ‚Backfisch‘ und als Sänger eine „Melodie in Hosen“ (S. 195) (ein deplazierteres Bild ist schwer vorstellbar), er stört sich an Hölderlins Gebrauch griechischer Namen und Begriffe, vor allem an seiner „Länglichkeit, also Unzulänglichkeit“ (S. 197). Hölderlin mangele es am „Gefühl für Länge“, seine Dichtung bleibe „oft schläfernd, unübersichtlich, einschnittlos.“ Es wäre ungerecht, wollte man diese Einwände als ästhetischen Offenbarungseid werten, der Kerrs völlige Unfähigkeit, Hölderlin auch nur ansatzweise angemessen zu lesen, dokumentiere. Die Wurzel dieser Fehlurteile liegt darin, dass Kerrs Stilideal die Kürze war, die Pointe, der impressionistische Einfall, die heitere Volte. Auch das Manieristische und die Koketterie hat er nicht verschmäht, wenn er glaubte, damit einen Effekt zu erzielen. Nichts kann einem solchen Stilideal ferner stehen als der heilige Ernst Hölderlins und das weit Ausgreifende und – mit dem 2009 verstorbenen großen Philosophen Manfred Riedel zu sprechen – ‚Hesperische‘ seiner geschichts- und kulturphilosophischen Gesänge. Im letzten Abschnitt seines Hölderlin-Artikels geht Kerr auf die zeitgenössische Rezeption des Dichters ein und verrät einmal mehr seine Ahnungslosigkeit, wenn er über die Entdeckung der Pindar-Übersetzungen 1909 durch Norbert von Hellingrath und das Maßstab-Setzende von dessen unmittelbar vorangegangener Hölderlin-Edition völlig hinweg geht. Rühle sieht in Kerrs Sprache eine „eigene Schöpfung“ (S. 354), deren knappe, schroffe Sätze „voll mit Fakten, voll mit Erkenntnis, mit Unterscheidungen“ (S. 355) seien. Ich möchte das bezweifeln. Nehmen wir zwei fast beliebig ausgewählte Stellen: Im Aufsatz zu Goethes 150. Geburtstag liest man: „Goethes beste Ethik liegt schließlich doch im Beispiel: im Ringen. Sie liegt im Streben nach dem Unsterblichen, wie sie im Sänftigen und Bändigen liegt. Ein sündhafter, schwankender, strahlender, menschlicher Mensch steht vor uns, der die sinnliche Liebe durchgeistigt und durchseelt, der an sich schafft mit einsamen Schmerzen“ (S. 82). Abgesehen von dem schiefen Einstieg, der die Frage aufwirft, ob Goethe mehrere Ethiken hatte, ist die Sprache hier m. E. das Gegenteil des von Rühle Gelobten, nämlich diffus, gefühlig bis zum Sentimentalen, im Urteil konventionell, nachgerade phrasenhaft, in summa: ohne jeden Erkenntnisgehalt. Das zweite Beispiel stammt aus dem Nachruf auf Richard Dehmel von 1920 und bezieht sich auf dessen Gedichtband Zwei Menschen: „Gefestigtes Herumirren Hand in Hand. Rings das große Rätsel: Verlorenheit; Zweifel und Schwankungen des eignen Herzens. Das Auf und Nieder zwischen einem Mannsgeschöpf und einem Weibsgeschöpf; das Wippen zwischen Kampf und Hingabe. Dabei die Abwehr der harten Umwelt.“ (S. 191) Gibt das irgendeinen Aufschluss über den besonderen Gehalt von Dehmels damals skandalumwitterter Dichtung? Erfahren wir irgendetwas über deren Literarizität? Kerrs Schreiben über Literatur tendiert hier und sehr häufig zu einem Schreiben über ein anempfundenes Thema, das literarisch vermittelt ist, aber nichts von Belang über Literatur mitteilt. In seinen Stil mischen sich gelegentlich auch kleine Eitelkeiten, die man gerne entbehrt hätte. Sein Schreiben ist vor Renommisterei nicht gefeit.

Was bleibt, ist m. E. nicht viel. Es bleibt die mutige Geste der Absage an Hauptmann 1933, es bleibt die entschiedene Charakteristik von Heines Romanzero als ‚Judenbuch‘ mit ihrer polemischen Wendung gegen eine saturierte jüdische Bourgeoisie, die sich in der falschen Sicherheit von Prosperität und Akkulturation wiegt, und es bleibt die Pionierleistung, die Kerr für Musil erbracht hat. Was Sprache und Gehalt betrifft, scheint Kerr mir eine Gestalt zu sein, die weitgehend nur noch von historischem Interesse ist. Günther Rühle betont sehr zu Recht Kerrs Leben im Augenblick und schreibt: „er musste erleben und das Erlebte weitergeben, schnell, um frei zu werden für das nächste Erlebnis.“ (S. 352) Diese Fixierung an den Augenblick scheint mir der tiefere Grund für Kerrs Historizität zu sein, der Preis seiner Jetztzeitorientierung ist die deutlich limitierte Haltbarkeit seiner Texte. Und um sie bloß um ihrer selbst willen zu lesen, fehlt ihnen zumeist die intellektuelle Substanz. Eine überraschende Entdeckung möchte ich jedoch ausnehmen: den hier erstmals gedruckten Radiovortrag über Jean Paul zu dessen 100. Todestag. Er unterscheidet sich bereits durch die äußere Form, die hier nicht in feuilletonistische Häppchen zerfasert, durch eine dezidierte Werkbezogenheit der Argumentation und durch eine gedankliche Kohärenz auf positive Weise von der Mehrzahl der anderen Texte. Überzeugend arbeitet Kerr hier die Besonderheit von Jean Pauls Stil heraus, die für ihn in seiner Unübersetzbarkeit manifest wird.

Die Edition ist mit einem detaillierten und zuverlässigen Stellenkommentar versehen und durch ein Personenregister erschlossen, das auch den mehr als hundert Seiten umfassenden Kommentarteil mit erschließt.

Alfred Kerr Sucher und Selige. Moralisten und Büßer
Literarische Ermittlungen.
Hg.: Margret Rühle, Deborah Vietor-Engländer.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2009.
519 S.; geb.
ISBN 978-3-10-049508-2.

Rezension vom 14.01.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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