#Lyrik

Streichelchaos

Andreas Okopenko

// Rezension von Helmut Sturm

Seit gut einem halben Jahrhundert beliefert uns der studierte Chemiker Andreas Okopenko (dessen Urgroßvater, lese ich, als Begründer der ukrainischen Prosa gilt) mit seiner Literatur, für die er vielfach ausgezeichnet wurde. Er gehört immer noch zur Avantgarde („Zeit / Meine Uhr geht 100 Jahre vor.“). Sein jüngstes Buch ist eine Auswahl von Gedichten, die an „Hunderten Tagen“ auf „Einfallzettel“ festgehalten wurden. Klaus Nüchtern hat im „Falter“ einmal von der „Halogenlampe“ über Okopenkos Bett und seinem „Block mit automatischer Beleuchtung“ berichtet. Heute verwendet der Dichter vermutlich den Computer, er kennt den „Computermorgen / Das System ist gestartet, alle Folter schon wartet.“

Der größte Teil der versammelten Texte stammt aus den letzten fünf Jahren, manche sind aber bereits in den fünfziger Jahren entstanden. Wie Okopenko in der „Vorbemerkung“ , die tatsächlich eine höchst präzise Charakteristik des Bändchens bereithält, anmerkt, handelt es sich diesmal nicht um einen weiteren Band mit „Lockergedichten“, denn er habe bei vielen Beiträgen „im Minimalbereich Retuschen zur Verbesserung und Verdeutlichung vorgenommen“. Das Spontane der Texte bleibt jedoch deutlich spürbar. Der aleatorische Zugriff auf die Welt, der ja letztlich der Zugriff der Naturwissenschaft ist, ist bestimmend für Andreas Okopenko. Der erste Satz im berühmten „Lexikon-Roman“ aus dem Jahre 1970 („Dieses Buch hat eine Gebrauchsanweisung, denn es wäre hübsch, wenn Sie sich aus ihm einen Roman basteln wollten.“) lädt ein zum aleatorischen Schmökern. So auch in „Streichelchaos“ „ein Buch, geschaffen zum Blättern“. Das vermittelt uns Leserinnen und Lesern ein wenig von der Euphorie, die der gleichnamige Zweizeiler so benennt: „Es fing so grau an / und ging so bunt zu Ende.“

Formal enthält der Band Einzeiler („Fluch / Gott teufle mir!“), Aphorismen („Grabschrift / Nun immer / im selben Zimmer.“), Vierzeiler und einige mehrstrophige Gedichte. Es gibt viel Reim und Metrum, die Fügungen sind oft hart, das Vokabular aus der Alltagssprache. Da und dort finden sich Einsprengsel aus dem Wienerischen („Alzheim is mei Heim – / steckts mi in des Alzenheim.“).

Im „Lexikon-Roman“ lesen wir unter dem Stichwort „Affirmative Dichtung“: „…. trotz Terror in der Ionosphäre und am Meeresgrund; trotz Niggerlynch, Mafia, Studentenschlachten; trotz Alt- und Neukolonialismus, Ausbeutung, Hunger, Bevölkerungs- und Bildungsexplosion; Spionage, Manipulation, Korruption … wieder eine Liebeserklärung an die Welt“. Andreas Okopenkos Liebeserklärung wird allerdings mit einem Augenzwinkern gegeben: „Was ich heut mache? / Frag morgen die Feuerwache.“ Dabei sieht der Autor klar die Differenz zwischen Literatur und Leben: „Ach wieder dieser Rat / Schreib nicht übers Leben, leb. / Schreib nicht übers Schweben, schweb. / Schreib nicht übers Werben, wirb. Schreib nicht übers Sterben, stirb.“ Das Chaos dieser Sammlung ist welthaltig, oszillierend zwischen Freude und Aufruhr.

Auffällig ist ein gewisser grotesk-makabrer Zug in manchen Notaten: „Kühlhausflirt / Leiche, du stinkst wie ich – / aber ’steil‘ bist du immer noch.“ Aber ein Wiener macht ja „sogar aus dem Tabernakel“ noch „ein Schabernakel“.

Diese Spontangedichte sind anregend und speziell für Lesesüchtige, die für freie Minuten schnell etwas zur Hand haben müssen, das richtige Vademekum.

Andreas Okopenko Streichelchaos
Spontangedichte.
Klagenfurt, Wien: Ritter, 2004.
128 S.; brosch.
ISBN 3-85415-362-7.

Rezension vom 31.01.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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