#Roman

Störgeräusch

Martin Pichler

// Rezension von Martin Reiterer

Man kann Martin Pichlers Roman gern zweimal lesen. Er hält es aus. Störgeräusch zeichnet sich aus durch seine kompositorische Dichte und ein feines Netz sprachlicher Bezüge. Thematisch schließt das Werk deutlich an seine beiden vorausgehenden Bücher an, wobei der Autor nun formell wieder auf die Schreibstrategie zurückgreift, die er in seinem ersten Buch, „Lunaspina“, ausgelegt hatte und die eine erstaunliche Fähigkeit erkennen lässt, sich akribisch in die Sicht- und Wahrnehmungsweisen seiner Figuren einzuwühlen. Pichlers zweites Romanwerk, „Nachtreise“, stellt bekanntlich eine sehr direkte literarische Protokollierung und Verarbeitung des Todes seiner Mutter bzw. des „Muttersterbens“ dar. Mögen die Figuren in Störgeräusch auch eine bekannte thematische Landschaft evozieren, es handelt sich bei diesem Buch nicht um einen „Fortsetzungsroman“, der Grad der Fiktionalisierung hat zugenommen, das Autobiographische spielt, literarisch gesehen, kaum noch eine Rolle.

Die drei Kapitel des Romans setzen sich aus geschickt montierten Perspektivwechseln innerhalb einer sorgfältig angelegten Figurenkonstellation zusammen: Erinnerungen, Déjà-vus, Rückblicke, die immer wieder unterbrochen, gestört oder an einem anderen Punkt fortgeführt werden. Die Lebensentwürfe der beiden Protagonisten, Vater und Sohn, werden parallel geführt, so fallen Licht und Schatten auf den jeweils anderen, bevor sie gegen Ende des Romans einander gegenübertreten.

Als unaufdringliches Leitmotiv des Buchs verrät das wiederkehrende „Dreh dich um, dreh dich um!“ ein Verfahren, das die formale mit der inhaltlichen Ebene verbindet sowie anhand der Schreib- eine Lesestrategie mitliefert. Die kühne Verknüpfung, die der Autor hier zwischen dem Hohelied Salomos („Dreh dich um, dreh dich um, Sulamith! Dreh dich um, dreh dich um, dass wir dich anschauen!“) und Aufforderungen, (homo-)sexuellen Wünschen bzw. Fantasien im Liebesspiel („Dreh dich um!“) herstellt, spricht die zentralen Themen Liebe und (schwule) Erotik im Roman an. Überlagert sind diese Konnotationen von Aufforderungen, genau hinzuschauen und zu erkennen, was vor sich geht. Es ist die Geste des Innehaltens, das Tempo, das sich in den filmischen Stilmitteln der Flashbacks widerspiegelt, sowie die Einsicht, die sich einer der Hauptfiguren des Romans zur eigenen Überraschung aufdrängt, dass „alles im Rückblick Sinn (erhält)“, nämlich das, was man zuvor bereits weiß, sich aber dennoch nicht vorzustellen vermag.

Angeregt wird dieses Innehalten und Hinhören vordergründig durch eine Reihe von Störelementen und Störgeräuschen – scheinbar zufällig auftretende kleine ärgerliche Irritationen des Alltags, die da irgendwo aus dem Äther kommen, schließlich jedoch die Figuren an einem richtigen Nerv treffen, sie hellhörig machen und hinhören lassen. Neben dem „Sirren“ und „verräterischen Raunen“ der gängigen Kommunikationsmittel (Telefon, Internet) ist es die Stimme der toten Mutter bzw. Frau, Margareth, die hier dazwischenfunkt. Damit wird zugleich vektorial jener Ort angedeutet, der das „gespenstische“ Rauschen und Raunen vom Hintergrund her gleichsam bündelt: Der Tod der Mutter (bzw. Frau), die letzte Phase ihrer zehrenden Krankheit eingeschlossen. Er stellt jene Zäsur dar, die eine „alte Zeitordnung“ zum Abschluss bringt und den Beginn neuer Verhältnisse markiert. Während die alten familiären Beziehungen gleichsam auseinander treiben, den Grund für einen Zusammenhalt verloren haben, versuchen Vater und Sohn, mit dem Verlust umzugehen, gehen jeweils neue Liaisonen ein. Dabei sehen beide sich auf je unterschiedliche Art und Weise in Verrat verstrickt.

So findet Franz sich unversehens in ein „Doppelleben“ geraten, hin- und hergerissen zwischen der um Jahre jüngeren Maria und Margareth, die sich durch ihre Stimme (noch immer) an ihn wendet: „Dreh dich um, dreh dich um!, erinnere dich an meinen Atem […]. Erinnere dich an die Dinge, die ich nicht weiß, weil ich abgewandt war von mir selbst, halte sie fest für mich.“ Am Rande scheint an dieser Stelle angedeutet, was über die Figurenperspektive hinaus noch eine Intention des Autors, des Schreibens, zum Ausdruck bringt: die „Verantwortung den Toten gegenüber“. Die Figuren des Romans treibt dieses Vermächtnis in ein Dilemma, das da ungleich radikal formuliert wird: „Unweigerlich erweist sich jede Sehnsucht, einmal in Worte gefasst, als Verrat“.

Philipp, der seine Affäre mit Diego seinem Freund Luca verheimlicht, erscheint vordergründig gelassener als sein Vater. Sein Flirten in Chatrooms unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Identitäten sieht er als Ablenkung, als Spiel oder als Zugeständnis an die Kehrreime der Songs aus dem Autoradio: „Nessuno è mai solo se stesso“ (Niemand ist niemals nur er selbst). Doch auch sein „Doppelspiel“ geht zurück auf die Zeit, als seine Mutter im Sterben liegt. Indem Philipp sich einklinkt in das virtuelle Universum des Chatrooms, klinkt er sich zugleich aus von der realen Welt des Schmerzes und der Gewissheit des Verlusts. Ein Verlust, der offenbar von erschütterndem Ausmaß ist, wie er es später ausdrücken wird: „Ohne Mutter ist er nämlich verloren. Es gibt für ihn kein Leben ohne sie. Ganze Regionen seines früheren Lebens sind zusammengebrochen […].“ Philipps Mutter war es – anders als sein Vater , die nach seinem Outing ihn und sein Anderssein bedingungslos anerkannte, genauso wie sie Luca sofort in ihr Herz schloss. Er war, so Philipp, Mutters „Adoption“. Es ist, als ob der Verlust der Mutter zugleich Luca mit beschädigte. Statt in diesem das Leben und die Liebe zu erkennen, ertappt sich Philipp, wie er von Luca wie von Mutter spricht, „als spräche er von zwei Toten, deren Erinnerung ein lästiger Nachspuk ist.“ „Vielleicht wäre es in der Tat tröstlich, sich in wolkiger Trauer aller Gefühle für Luca zu entledigen.“

Wie tiefgreifend und nachhaltig der Verlust der Mutter auch in Philipps Gefüge der Sicherheit eingegriffen hatte, als ob er den Verlust der Selbstverständlichkeit seines Andersseins darstellen würde, wird noch auf einer anderen Ebene angesprochen. In den Alpträumen erscheint seine einmal errungene Emanzipation gegenüber dem Vater aufgehoben, in Frage gestellt. Tatsächlich ist daran jedoch auch eine Angst sichtbar, die Vater und Sohn ohne ihr Wissen miteinander verbindet: die Angst vor der Veränderung. Franz gelingt es schrittweise, diese Angst zu überwinden, sich der neuen Liebe und einem unkonventionellen Lebensmodell zu öffnen, das er vor kurzem seinem Sohn nur schwerlich zugestehen wollte. Die Veränderungen, die Franz allmählich in seinem Leben zulässt, stellen schließlich eine Analogie zu Philipps schwuler Identitätsfindung dar.

Philipp dagegen flüchtet sich in die Figur des Jeeg Robot – japanische Superheldenfigur aus der Kindheit und eine seiner Chatroom-Identitäten – und tauscht mit ihr das Gefühl des Verlusts und der Angst gegen das der Allmacht ein: Im Rausch verfügt er über zwei Körper, Diego und Luca, ein Eindruck, der sich als Trugbild herausstellen und unter Einfluss einer veränderten Wirklichkeitswahrnehmung ernüchternd in sein Gegenteil verkehren wird. „[C]he razza di fumetti siamo noi“ (Was für eine Art von Comicfiguren sind wir denn?), schwirrt Philipp als Frage durch den Kopf. Sie markiert rhetorisch eine Grenze seines Doppelspiels der Identitäten, die mit dem Laufpass von Luca nur auch noch äußerlich erreicht wurde. Es bleibt das „Nagen der Sehnsucht“, das im „Karussell“ des Begehrens nicht zur Ruhe kommt.

Als Franz und Philipp sich schließlich gegenübertreten – Anlass ist der Krankheitsfall des Vaters – prasseln die Bilder stürmisch auf die inneren Leinwände. Plötzlich findet Franz sich in der Situation, sich seinem Sohn gegenüber wegen seines Liebesverhältnisses erklären zu müssen. Plötzlich ist eine neue Angst da, angesichts einer bevorstehenden Herzoperation. Vorweg ist – in der Vorstellung – ein neues Störgeräusch, das Ticken der künstlichen Herzklappe hörbar. Als der Vater während eines Besuchs Philipp die Hand in den Nacken legt, erinnert diese Geste an eine Situation, in der Diego ihm auf gleiche Weise die Hand auf die Schulter gelegt hatte, die ihn damals wiederum an die Geste seines Vaters erinnerte, der ihm als Kind auf diese Weise die Hand in den Nacken legte. Das löst bei Philipp blitzartig eine Erkenntnis aus: In seinem Verhältnis zu Diego – in dem sich Philipp gleichsam experimentell auf eine bisher neue (sexuelle) Rolle einlässt – spiegelt sich seine einstige Beziehung zum Vater.

Entgegen dem anfänglich teils widerwilligen Zusammentreffen scheint allmählich – mit Zurückhaltung und Vorsicht – eine Annäherung zwischen Vater und Sohn möglich. Überrascht stellt Philipp fest, dass sein Bild von seinem Vater nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Auf einmal ist nicht mehr Philipp, sondern der Vater der Rebell, der über den eigenen Schatten springt, die eigenen Grenzen überschreitet.

Martin Pichler Störgeräusch
Roman.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2006.
222 S.; geb.
ISBN 3-85218-512-2.

Rezension vom 09.01.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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