#Prosa

Stillfried

Gerhard Ulbrich

// Rezension von Werner Schandor

Ein urgeschichtliches Grab mit Skeletten von drei Erwachsenen und vier Kindern, 1976 im niederösterreichischen Stillfried entdeckt und im naturgeschichtlichen Museum in Wien rekonstruiert, ist Ausgangspunkt von Gerhard Ulbrichs Archäologie des Mordens. Denn die in Stillfried verscharrten Menschen kamen vermutlich durch Vergiftung um. Und: Sie wurden noch lebend in die Grabstelle gebracht, wie die Stellung der Skelette schließen lässt. Gerhard Ulbrich listet die „Gedanken und Berichte“ seines Versuches am Beginn einer Geschichte entlang von vier ausgewiesenen Erzähl- und Reflexionssträngen auf, denen die Buchstaben A bis D zugeordnet sind.

Strang A setzt sich mit „Leben und Sterben“ der im Stillfrieder Grab gefundenen Menschen auseinander und rekonstruiert in Ansätzen die europäische Frühgeschichte der Menschheit.

Strang B betitelt sich „Allgemeines zur Vergangenheit“. Hier werden Parallelen zwischen Leben und Sterben der Urnenfelderzeit und der Gegenwart – vor allem am Beispiel Ruanda – gezogen.

Strang C nennt sich „Nachweise und Annahmen“ und versammelt – zumindest anfangs – wissenschaftliche Ergebnisse und Schlüsse.

Strang D, „Zufälle und Bemerkungen“, führt in eine gegenwärtige Parallelwelt zum Stillfrieder Kosmos. Eine Figurengruppe des Hier und Jetzt wird eingeführt, die die gleiche Familienstruktur wie jene der Toten des Grabes aufweist.

Auch wenn die Ordnung des Buches anfangs zwingend und logisch erscheint, – im Verlauf der von Ulbrich wiedergegebenen Recherchen, Beobachtungen und Schlüsse zwischen den Vorfällen der Vergangenheit und denen der Gegenwart gerät diese Ordnung zunehmend aus den Fugen. Nicht ohne Grund: Was bringt den Menschen als Spezies dazu, sich gegenseitig zu vergiften, den Schädel einzuschlagen, aufs Grausamste niederzumetzeln? Der Ich-Erzähler sammelt – ausgehend von der Besichtigung der Stillfrieder Grabrekonstruktion im Naturhistorischen Museum – Indizien, die diese Fragen beantworten sollen. Dadurch wird er sich des Ausmaßes der Gewalt auf unserem Planeten gewahr. Und dieses Gewahrwerden wiederum lässt den Erzähler am Verstand der Menschheit zweifeln. Der Ort Stillfried unweit der österreichisch-slowakischen Grenze mit seinem erst nach Jahrhunderten ans Tageslicht gelangten Mord wird in Ulbrichs Buch zum Spiegelbild des globalen Dorfes, das genug Morde für die nächsten Jahrtausende produziert. Diese Morde aber sinken sofort ab ins Vergessen. Ulbrich thematisiert auch dieses Phänomen. „Man dachte lieber an etwas anderes, bevor man an Stillfried dachte. Deshalb war es in keinem Gedanken. Obwohl jeder von diesem Zustand wusste.“ (S. 84)

Ordnungen, Zuordnungen, die die menschliche Vernunft beruhigen und den Glauben an Humanität aufrechterhalten könnten, versagen im Fortgang der Erzählung immer offensichtlicher. In dem strenger durchkomponierten und umfangreicheren ersten Teil des Buches widmet sich Gerhard Ulbrich möglichen Begründungen für die menschliche Mordlust. In einem kürzeren zweiten Teil, „Konklusion“ benannt und „Die Auflösung der Ordnung“ untertitelt, heißt es: „Das Unbegreifliche bleibt. Der Zweck der Ausrottung, die Ausrottung um der Ausrottung willen, ist nicht verstehbar.“ (S. 108) – Im selben Ausmaß wie die Recherchen nach den Ursachen scheitern, kippt auch das Buch zunehmend ins Verdichtete, Traumhafte, zuletzt ins Private der eingeführten Figurengruppe, die man „Stillfried 1990“ nennen könnte. Im Mittelpunkt steht ein Mann, Vater von vier Kindern, die er mit zwei Frauen hat. Der Mann leidet an Immunschwäche und zieht sich zusehends von der Welt zurück. Unweigerlich denkt man an AIDS. Dann erst entdeckt man, dass die Schwäche des Mannes darin bestehen könnte, sich nicht mehr gegen die Eindrücke der Gewalt immunisieren zu können.

Wie auch immer: Spätestens bei der Einführung dieser Gruppe droht man im Dickicht der zu Stillfried gezogenen Parallelen den Überblick zu verlieren: Stillfried – Tschernobyl, Stillfried – Ruanda; Stillfried – Bosnien; und dann auch noch, als ferner Klang: Stillfried – AIDS. Dass die Stillfried-Metapher zwischendurch ein wenig überspannt wird, ist der Wermutstropfen des Buches, der den Gesamteindruck jedoch nicht zu trüben vermag. Und so kann Stillfried als nachhaltig beeindruckender literarischer Versuch gelten, das Unbegreifliche doch zu begreifen.

Stillfried. Ein Versuch am Beginn einer Geschichte.
Wien: Triton, 1999.
128 Seiten, gebunden.
ISBN 3-85486-039-0.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 11.11.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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