#Lyrik

Sternhagel. Ist denn das noch Lyrik oder nicht schon Deutsch-Punk?

// Rezension von Günter Vallaster

Verse wie Hooklines

Als Tête-bêche („Kopf bei Fuß“), also Kehrdruck und damit als zwei Bücher in einem präsentiert sich Sternhagel von Wolfgang Lindner und Ist denn das noch Lyrik oder nicht schon Deutsch-Punk? von Andreas Pavlic. Das wirft zunächst einmal die Frage nach Gemeinsamkeiten auf, die das Doppelbuch begründen, und den sehr bibliophil gestalteten Band einmal in der Hand, finden sich auch Antworten in Fülle: Beide Teile sind lyrisch, aber nicht nur, sie sind zudem von sehr ansprechenden Grafiken von Nicole Szolga im Teil von Andreas Pavlic und von Linda Bilda und dem Autor im Teil von Markus Lindner begleitet. Eine weitere Verbindung sind nicht zuletzt die Thematiken, nämlich die Katastrophen der Zeit und wie ihnen hauptsächlich in der kleineren mittleren Großstadt Innsbruck und der kleineren mittleren Millionenstadt Wien begegnet wird, worin sich biografische Parallelen der Autoren zeigen.

Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es aufgrund der individuellen Handschriften und Stilmittel der Autoren und bildenden Künstler:innen natürlich auch Unterschiede, die dem Band noch zusätzlich eine anregende Spannung verleihen, als eine „Einheit der Gegensätze“ sozusagen, wie sie auch das philosophische Denken seit der Antike prägt, verwiesen sei auf die daostischen Prinzipien Yin und Yang oder den Vorsokratiker Heraklit von Ephesos mit seinem Konzept der „Einheit der Vielfalt“ und seinem berühmten Satz „panta rhei“. „Alles fließt“ prägt auch beide Teile des Bandes gleichsam leitmotivisch, das Wasser, Fließen und Flüsse, konkret oft der Inn und die Donau sind bei Andreas Pavlic und Markus Lindner omnipräsent. So gesehen führt das Umkehrbuch auch konzeptuell sehr schön vor Augen, dass es nicht möglich ist, zweimal in denselben Fluss zu steigen, um mit dem weiteren berühmten Satz von Heraklit zu sprechen.

Kantig, wie es einem Stern als geometrische Form oder dem typografischen Zeichen Asterisk entspricht, tritt den Lesenden Sternhagel, der Teil von Markus Lindner, entgegen, aber keineswegs sperrig. Vielmehr werden die menschenverschuldeten Katastrophen und die sich überschlagenden Ereignisse der Zeit schon im Prolog vom Autor klar genannt: „Eigentlich wollte ich in diesen Texten auf die schleichende Erwärmung und Vergiftung und die damit verbundene Zerstörung hinweisen, als am 24.2.2022 das Undenkliche geschah und Russland die Ukraine überfiel. Der Sternhagel, ein mir persönlich unwichtiges Bild aus der Apokalypse des Johannes (6:13), bekam so eine weitere, zufällige Bedeutung.“ Das angesprochene Bibelzitat lautet: „(…) und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft“. Das Wort „Sternhagel“ legt natürlich auch sofort die Ergänzung „voll“ nahe und voll in einem positiven Sinne ist auch schon die erste Text-Bild-Strecke, nämlich mit nahezu vollflächigen und räumlich wirkenden Grafiken in Mixed Media, die von der Zeichnung über die Collage bis zur Computergrafik reichen und wie ein Storyboard festhalten, wie es in der Innsbrucker Altstadt eventuell nach einem Umtrunk „plötzlich um 4 Uhr“ Sterne hagelt. Dunkel und sinister, ja apokalyptisch wie die Bilder sind auch die Verse, die sich von Bildunterschriften zu ausdrucksstarken Gedichten ausfächern, etwa mit Bäumen „im Griff nach den Wolken oder Sternen“ als „erstarrte und erschwarzte Hände / Schwarze Skelette vor einem neonglimmernden Farbenmuster“ (Herbst XXIX), bis zur großen und in großer Schrift gehaltenen Frage: „Kommt jetzt das Zeitalter des Feuers?“ Allerdings sind in die Gedichte viele sehr präzise Farbbenennungen eingewoben wie der „Königsblau-Himmel“ (Medium Universel) oder ein „Hauch Zinkweiß“ (ebd.), wodurch die Textebene eine intensive Bildcharakteristik erhält und damit in einem spannungsvollen Kontrast zu den Bildern steht, die durch ihr Schwarz-Weiß wiederum skriptural erscheinen. Zum Ende hin werden die beklemmenden Fakten des Ist-Zustandes immer direkter genannt, die Gedichte erscheinen wie Transparente auf einer Demo: „1% / der Bevölkerung / in Österreich besitzt 50%“ (Pyramidenspiele) und als weiterer Schauplatz um sich greifender Zurückdrängung der Lebensräume tritt Wien hinzu: „Der Prater liegt da wie der Krater einer Wunde Natur“ oder „die Häuser fressen die Gstättn auf“. Über die Klimakatastrophe und Pandemie bricht auch noch der Krieg herein: „Stop the war! Stop the fire! Stop the prices!“ Es bleibt gegen Ende nur noch ein Hagel aus Asterisken, flächensyntaktisch über die Seiten verteilt.

Rund, so wirkt Ist denn das noch Lyrik oder nicht schon Deutsch-Punk?, der Teil von Andreas Pavlic. Das liegt zunächst einmal an der Cover-Grafik von Nicole Szolga, in der der Titel in ein kreisrundes Emblem auf hellem Grün eingeschrieben ist. Der Eindruck setzt sich in den Gedichten fort: rund und musikalisch, wie Songs mit Chorus und Refrain. Rund heißt aber nicht unbedingt beschwingt, vielmehr, dass es ganz schön rund geht auf dieser Welt, was auch in einem sehr direkten Punk-Duktus zur lyrischen Sprache gebracht wird. Das erste Gedicht bittet die Lesenden schon auf den Springturm: „Geh‘ auf den Fünfer / du kannst es / das Wasser ist warm“ (Springturm). Gelernte Wiener:innen assoziieren damit sofort auch die Straßenbahnlinie 5, womit das Gedicht noch einen doppelten Boden respektive Abgrund erhält. Ins kalte Wasser geschmissen zu werden, ist eine häufige Erfahrung im Leben um die Jahrtausendwende. Davon und von den Versuchen, wenigstens kleine Rettungsinseln zu erreichen oder im Rückblick zu erkennen, sprechen, ja erzählen die Gedichte, „es geht nicht um die Donau / sondern die kleine Welt vor der Haustür“ (Einmal raus), dies meist dialogisch und zitierend: Oft eröffnet ein „du sagst“ die Strophen, wie wir es auch von Songtexten kennen: „du sagst / es war ein Glück bei Föhn / mit einer Flasche Wein“ (Ein populäres Lied von einer überlebten Zeit) und „Föhn“ ist hier ein Schibboleth für die Föhnstadt Innsbruck. Es ist ein Leben und Werden zwischen Aufbruch und Rückkehr, Revolte und Resignation, das sich in vielschichtigen und unterhaltsam zu lesenden lyrischen Erinnerungsspuren entfaltet, gleichsam als poetischer Roadmovie mit prägenden autobiografischen Stationen und Ereignissen, in denen sich aber auch die Lebenskultur des kritischen und alternativkulturellen Teils einer ganzen Generation spiegelt: „du sagst / deine Lederjacke ist jetzt vergan / ich sag, meine ist second hand“ (Ramones III), mit welthistorischen Ereignissen wie der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl oder dem Zusammenbruch des Ostblocks als klar benanntem zeithistorischem Rahmen: „am Morgen war’s mit der Sowjetunion vorbei / Ende Over / Frühstück und Flipper gespielt“ (Urlaub mit Ravioli). Nicht zuletzt sind die Gedichte auch Hörspuren, die den Soundtrack des Lebens, aber auch die unausweichliche musikalische Sozialisation rhythmisch, musikalisch und mit mehr oder weniger versteckten Anklängen und Anspielungen wiedergeben. Song- und Plattentitel werden zitiert und dadurch spannend umkontextualisiert: „in deinem nagelneuen Joy Divison Shirt / unknown pleasure“ (Ramones III). Nostalgie wird eindrucksvoll eingefangen, indem die Gegenwart in die matten Farben eines rissigen alten Super-8-Films getaucht wird: „70er mit Laptop und Walkman / sag ich, das wär‘ ’ne coole Zeit“ (Der Tag schwitzt aus allen Poren). Pointiert und ausdrucksstark wird die resignierte Suche nach dringend notwendigen Veränderungen lyrisch festgehalten: „Was uns fehlt / ist eine richtig gute Theorie / von der Welt / es kennt sich ja niemand mehr aus“ (Ohne Theorie keine Revolution) (…) „wie die von Einstein / E= mc2 / ja, am besten eine Formel / die man sich leicht merkt und // doch nicht versteht / so muss sich einfach etwas ändern“ (ebd.), ebenso die allenthalben sichtbare Verdrängung: „wir werden alle zugrunde geh’n / zugrunde heißt zum Strand“ (Schenkt nach den Sekt). Was bleibt, ist „ab in den Weltraum“ (Und die Oma starb an Krebs II), oder „schau auf die Stadt“ (ebd.) oder zumindest „sei doch kein Arschloch“ (ebd.).

Mit Sternhagel von Markus Lindner und Ist denn das noch Lyrik oder nicht schon Deutsch-Punk? von Andreas Pavlic liegt ein vielfältiger und vielschichtiger Doppel-Lyrikband vor, der die Leserin, den Leser mit reichhaltigen poetischen Entdeckungsreisen, Begegnungen und Aha-Erlebnissen belohnt und durch die dichten, filigranen Grafiken von Linda Bilda, Markus Lindner und Nicole Szolga auch ein äußerst ansprechend gestaltetes Künstler:innenbuch ist.

Markus Lindner, Andreas Pavlic Sternhagel. Ist denn das noch Lyrik oder nicht schon Deutsch-Punk?
Lyrikband.
Illustriert von Linda Bilda, Nicole Szolga, Markus Lindner.
Wien: fabrik.transit, 2022.
108 S.; brosch.
ISBN 978-3-903267-37-4.

Rezension vom 05.01.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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