Spuren der Verirrten, Spuren von Paaren und Passanten auf der „immergleichen, immer gleichhellen“ leeren Bühne, zu zweit, zu dritt treten sie auf und ab, schweigend zunächst, kurz verweilend, im Gehen zur Sprache findend, stammelnd. Wie alle Figuren Peter Handkes sind sie unablässig unterwegs, stolpernd, hastend, schleichend, flüchtend, Pilger, die sich verirrt haben. Sie werden beobachtet, belauert, belauscht von dem Autor in der Rolle des Zuschauers, eines aufmerksamen Beobachters, der das Bühnengeschehen beschreibt, „Geschehnisse – keine Aktion freilich“, bloß eine „kleine Völkerwanderung“ Verlorener, Vertriebener, Verirrter, die so gerne zu Helden ihrer Dramen geworden wären. Noah, Abraham, Odysseus, Medea, Josef K. – ihre literarischen Rollenvorbilder werden herbeizitiert, doch finden ihre Dramen nicht mehr statt, sie spielen nur noch falsche Rollen in einer postmodernen Tragödie „des gemeinsam zum Schattendasein Verurteiltseins“ als blasse Nachbilder der mythischen Helden antiker Tragödien, als Schattenrisse biblischer Gestalten. Die Zeit der Helden, die Zeit der Tragödien ist vorbei, „weil es keine Schuldigen mehr gibt“ und auch keine Unschuldigen.
Und so ist auch Peter Handkes neues Stück keine Tragödie im klassischen Sinne mehr, und schon gar keine Komödie, sondern zielt vielmehr auf die Demontage der traditionellen Dramaturgie und ihrer Repräsentanzfunktion, durch die Zerstörung des herkömmlichen dramatischen Außensystems – einschließlich Fabeldramaturgie, Figurenspiel, Dialog und der durch ihn konstituierten Handlung. An ihre Stelle setzt Handke eine Art Heiner Müllersche Bildbeschreibung, eine dramatische Erzählung über die Vorahnung des Krieges, über den Verlust des Friedens, über Vertraute und Fremde, über das „Verschwinden des Anderen“ und das Ende der gestundeten Zeit. „Die Zeit, sie zeitigt nichts mehr“ denn „für den Verirrten beginnt eine andere Zeit, (…) eine grundlegend neue.“
Die namenlosen Figuren, Männer oder Frauen, es ist nicht immer klar zu erkennen, die die Bühne bevölkern, sie ziehen durch unauffällige Gesten den Blick des Zuschauers auf sich, sie scheren aus der Menge aus, die allmählich den gesamten Bühnenraum füllt, sie finden allmählich aus der Gehbewegung heraus zur Sprache, sie suchen nach Worten, formulieren gebrochene Sätze, sich aufbäumend gegen die Leere, gegen das Schweigen, indem sie sich Gehör zu verschaffen suchen, um vom Zuschauer für einen Augenblick in ein Sprachbild gebannt zu werden. Nur durch seine Wahrnehmung hinterlassen sie Spuren.
Flüchtige Wortfetzen, Fragmente eines Streitgesprächs, die gestammelte Antwort auf unbekannte Fragen, Sätze, die nicht zu Ende geführt werden, manche banal, manche strotzend von ernsthaftem Pathos – allein der Autor/Zuschauer als allmächtige Instanz verknüpft diese einzelnen Bruchstücke zu einer Sprachbildmontage, doch zeitigt sein Blick von keinerlei Voyeurismus, im Gegenteil, durch seine Anwesenheit wird das Geschehen überhaupt erst bedeutsam, werden die Worte der Figuren bewahrt, wird ihre Bewegung in einer Momentaufnahme still gestellt und so aufgespart für den Leser, für dessen Zukunft: „Das Zuschauen ist etwas, das wir alle brauchen […], dass uns jemand zuschaut auf eine umfassende Weise, wie man sich vielleicht das von Gott vorstellt, […]“, beschreibt Handke in einem Gespräch mit Peter Hamm diese Poetologie der genauen Beobachtung, mithilfe derer er sein Werk auf der Seite der Rezeptionsästhetik ansiedelt. Handke überführt die Rolle des Autors bewusst in die des Zuschauers, des Lesers. Erst durch ihn findet das Werk seine Vollendung.
Und so ist es auch der Zuschauer, der die Verirrten zurück in ihre Bahnen lenkt und nach dem vermeintlichen Exodus, dem Ende der Zeit, die Hoffnung auf eine neue Zeitordnung – die Spielzeit (oder Erzählzeit) – weckt, wenn er sich, als die Sprechhandlung buchstäblich ins Stocken gerät, in das Bühnengeschehen einmischt und an die Figuren appelliert, weiterzuspielen: „Und gefälligst immer bezogen auf mich, der euch zuschaut. Könnte nicht ein jeder von euch noch und noch Geschichten erzählen, wie sich das Blatt gewendet hat – und nicht immer zum Bösen – dadurch, dass er als Zuschauer wirkte, als Zuschauer tätig war?“
Bereits in seinem großen Roman „Der Bildverlust“ benannte der Autor das therapeutische, das lebensstiftende Potential des Erzählens, da, so seine Vermutung, jedes Erzählen aus der Erfahrung des Krieges geboren sei, um den Schrecken in der Sprache zu bannen; Erzählen, um sich durch die Sprache des eigenen Überlebens zu versichern, um daraus Hoffnung zu schöpfen und die Drohung des Todes, das Ende der Zeit zu bannen. Wie Sheherazade, die sich von der abgelaufenen Zeit eine Gnadenfrist allein durch Erzählen erbat, so schenkt auch der Zuschauer den Verirrten, der Autor Handke dem Leser dieser wunderbaren Prosaminiatur das Versprechen der Erzählung.
Als der Schmerz nachließ –
und das Erzählen einsetzte:
Das waren noch Zeiten.
Das war die Zeit.