#Sachbuch

Sport und literarischer Expressionismus

Andreas Kramer

// Rezension von Alfred Pfoser

Drei kurze Textstellen, geschrieben im Juni 1914 von Max Herrmann-Neiße, Robert Musil und Franz Kafka, die das neue Phänomen sportlicher Freizeitgestaltung im öffentlichen Raum Berlins beschreiben, wählt Andreas Kramer zum Einstieg in sein Thema. Sie reflektieren die „Sportpraxis der Berliner Bevölkerung als neues kulturelles und gesellschaftliches Phänomen“ (S. 8). Dabei geht es um die „Zurschaustellung des sportlich bewegten Körpers“ in „neuen Räumen“ sowie die paradoxe Doppelrolle des Sports als „Produkt der organisierten Moderne“ wie als „Mittel gegen Belastungen durch Industrialisierung und Urbanisierung“ (S. 8). Ziel des Buches ist eine Analyse der „Wahrnehmung des Sports im frühen 20. Jahrhundert als einer neuen sozialen und kulturellen Praxis“ (S. 10) am Beispiel von „literarische[n] und essayistische[n] Texte[n] des deutschsprachigen Expressionismus“ (S. 10).

Gegliedert ist die Studie in vier Abschnitte zu den Sportarten Boxen, Tennis, Radfahren und Fußball. Diese Auswahl mag auf den ersten Blick verwundern. Bei Tennis etwa denkt man spontan eher an die Lawn-Tennis-Partien auf Gut Dornach in Marie von Ebner Eschenbachs Roman Unsühnbar, in der Villa des Fabrikanten Hofreiter in Arthur Schnitzlers Das weite Land oder im Grandhotel in den Südtiroler Dolomiten, wo Schnitzlers Fräulein Else den Sommer 1896 als Gast der reichen Tante verbringt. Kramer präsentiert in diesem Abschnitt Texte von Paul Mayer, René Schickele, Maria Lazar und am ausführlichtsten den episch breiten Roman Jüdinnen (1911) von Max Brod. Seine „Zugehörigkeit zum literarischen Expressionismus“ beruhe „vor allem auf der Hinwendung zu Schlüsselthemen der Epoche wie dem Generationenkonflikt, dem Problem des ,neuen Menschen‘, dem der Gemeinschaft entfremdeten Individuum, und dem Stadt/Land-Gegensatz, der sich in Folge von Industrialisierung und Urbanisierung verschärft.“ (S. 103) Mit dieser offenen Konzeption lassen sich viele AutorInnen dem „Epochenkontext des Expressionismus“ (S. 215) zuschlagen. Die angefügte „Bibliografie: Expressionismus und Sport“ umfasst denn auch 17 prall gefüllte Seiten. Aufgelistet sind hier literarische Texte aller Genres, inklusive einer Vielzahl von Feuilletons; die Bandbreite der Namen ist groß und umfasst Peter Altenberg und Karl Kraus ebenso wie Alfred Polgar oder Stefan Zweig.

Im ersten Abschnitt werden Texte von Paul Boldt, René Schickele, Alfred Richard Meyer, Klabund sowie Joseph Roths Reportage Der Boxer (1919) auf ihre Textstrategie hin untersucht. Zum Thema Radfahren stellt der Autor Texte von Olga Schneider, George Grosz, Ernst Kamnitzer, Walter Mehring und natürlich Georg Kaisers Klassiker Von morgen bis mitternachts (1916) vor. Im Abschnitt Fußball wird ein autobiografischer Erinnerungstext von Egon Erwin Kisch, der ins Jahr 1890 zurückblickt, ebenso behandelt wie Hans Flesch-Brunningens Novelle Idylle (1917), sehr ausführlich mit Arnold Beer (1912) wiederum ein Roman von Max Brod, und abschließend Melchior Vischers Fußballspieler und Indianer (1924).

Ein kurzer Ausblick am Ende tippt drei weitere Sportarten an, zu denen die Bibliografie bereits zahlreiche Beispiele liefert: „Schwimmen, Wintersport und Pferdesport“ (S. 259) – vielleicht ist das schon eine Vorstufe des Programms für einen Folgeband.

Andreas Kramer Sport und literarischer Expressionismus
Sachbuch.
Göttingen: V&R unipress, 2019.
(Expressionismus und Kulturgeschichte 1)
283 S.; brosch.
ISBN 978-3-8471-0939-6.

Rezension vom 02.04.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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