#Roman

Spiegelfuge

Martin Mumelter

// Rezension von Eva Maria Stöckler

„Worte? Musik? Nein: was dahinter ist, das ist’s.“ Mit einem Zitat aus James Joyce’s Ulysses beginnt Martin Mumelter seinen ersten Roman, in dessen Mittelpunkt der Literaturwissenschaftler und ehemalige Geiger Constant Meyer steht, der beim Einsetzen der Handlung aufgrund eines Gewaltverbrechens im Gefängnis sitzt, wo er mithilfe der Therapeutin Catherine Stark seine Geschichte aufarbeitet. Sie schreibt die Sitzungen in Gesprächsprotokollen nieder, rät ihm jedoch auch, seine Erlebnisse in einem Roman zu verarbeiten. Im Laufe der Zeit kommen sie einander näher, Catherine verliebt sich in ihn und muss daher die therapeutische Beziehung beenden. Sie nimmt Supervision der Zürcher Therapeutin Christine Fragonard in Anspruch und berichtet darüber hinaus ihrer Freundin Daisy in Australien, ebenfalls Psychotherapeutin, über die Erfahrungen mit Constant.

Diese psychologisch-therapeutische Ebene legt die Vorgeschichte zur Gewalttat offen. Constant Meyer steht in Kontakt zu seinem Jugendfreund und Musikerkollegen Vincent Schneider und zu Hans Klein, einem Bewunderer, der in Meyers Roman Personen aus der gemeinsamen Schulzeit porträtiert sieht, allen voran den despotischen Lehrer Franz Mutzer, den Meyer in seinem Roman in einem „extrem blutigen Amoklauf“ (8) sterben lässt. Mutzer und Constants Geigenlehrer Carl von Vanicek waren es, die ihn als Mensch und Geiger ruiniert haben. Mutzer, indem er den Schüler gedemütigt, Vanicek, indem er ihn mit Erwartungen überlastet hat. Dies löste bei Constant Stottern aus und führte zu motorischen Störungen beim Geigenspiel, sodass das ehemalige Wunderkind Constant Meyer das Musizieren aufgeben musste.

Die Handlung ist in unterschiedliche Textsorten (Therapiebericht, Roman, Brief, Dialog), die sich jedoch in ihrem sprachlichen Duktus sehr ähneln, und in 14 Kapitel gegliedert. Überschriften verdeutlichen, welche der handelnden Personen gerade „am Wort“ sind, typographische Markierungen (Kursivsetzung) kennzeichnen Zitate. Aus den langen Satzkonstruktionen im ersten Drittel des Romans werden zunehmend einfache Sätze, bewusst kompliziert Ausgedrücktes macht einer einfachen Sprache Platz, ohne dass dies in merkbarem Bezug zur Handlung oder Figurenzeichnung stünde. Auffällig wird dies insbesondere in jenen Passagen, in denen aus einem weiblichen Blickwinkel berichtet wird. So wird Catherines Versuch, ihre Gefühle und Erfahrungen in den Tantraseminaren zu beschreiben, durch männliche Sprachstereotype überlagert. Gewürzt wird der Text durch zahlreiche Querverweise aus der Literatur- und Musikgeschichte, in denen der Autor Mumelter deutlich aus seinem Text hervortritt, etwas, das der Roman im Roman durchaus kritisch reflektiert: „Ebenso nachlässig sind Fiktion und Autobiographie vermischt. Schlecht für den Roman, aber vielleicht gut für die Therapie.“ (110)

Ausgangspunkt und Grund für Meyers Haft ist ein Vorfall, bei dem er auf einem Bahnsteig auf eine Gruppe Schläger trifft, die zwei dunkelhäutige Kinder drangsalieren. Einer der beiden Schläger evoziert bei Meyer die Erinnerung an den Lehrer Mutzer, gegen den er sich nicht wehren konnte, und so beginnt Meyer so lange auf den Angreifer einzuschlagen, bis dieser wehrlos zu Boden geht und an inneren Blutungen stirbt. „… und ich sehe, wie ich ihm den ersten Tritt in die Weichteile versetze, und dann noch einen und dann springe ich mit beiden Füßen auf ihn drauf und trample auf ihm herum mit der gleichen blinden Wut, mit der ich einst auf den Trümmern zerborstener Teller trampelte, …“ (177f.) Nach Ansicht des psychiatrischen Gutachters handelte es sich „um eine Affekthandlung ohne Tötungsabsicht, allerdings mit einer gemeingefährlichen Eskalation.“ (217) Dem widerspricht Meyer: „Ich haben den Mann nicht getreten, um diese Kinder zu verteidigen. Auch nicht, weil er ein Springmesser zog. Ich habe ihn einzig und allein zu Tode getrampelt, weil er mich verhöhnt hatte. Und weil ich ihn nicht mehr ertragen konnte – diesen Gestank das absolut Bösen!“ (179) Aufgrund der besinnungslosen Raserei wird seine Zurechnungsfähigkeit geprüft, im Zuge dessen kommen eine Reihe von Kindheitserinnerungen und –ereignissen zur Sprache, aus denen heraus das Handeln von Meyer erklärt werden soll.
Da ist sein Verhältnis zur Mutter: „Ja, das war die erste große Liebe, wahrhaftig! Die Welt war groß, aber meine Mutter war noch größer.“ (20), sein behinderter Bruder, der Kommentar des Vaters, als er nicht mehr Geige spielen kann: „Jetzt habe ich zwei Krüppel als Söhne, der eine gelähmt, der andere ein Nervenwrack.“ (35). Therapiebericht von Catherine und fiktiver Text von Constant vermischen sich mehr und mehr, Catherine meint eher sich „selbst zu erforschen statt seine Therapie zu betreiben.“ (29) bis sie sich in ihn verliebt. „Zufälligerweise aber habe ich mich zutiefst in Constant verliebt, …“ (214).
Auffällig ist die häufige Verwendung eines einleitenden „ja“ am Beginn von Sätzen sowohl für Aussagen von Catherine als auch von Constant. „Ja, und am Schluss haben alle recht behalten, ein stotternder Geigenkrüppel, fertig.“ (112) „Ja, so ist es Daisy: Normalerweise verliebt man sich und erschrickt später über die Abgründe, die sich auftun. Bei mir ist es gerade umgekehrt: Ich habe in die Abgründe geschaut und mich verliebt.“ (149) Neben Täterpsychologie und Versagen der Pädagogen ist Catherines Liebe zu einem Gefangenen die dritte Ebene, die immer mehr in den Vordergrund drängt, sich jedoch in zahlreichen neuen Motiven (israelisch-palästinensisches Jugendorchester), neuen Figuren (Dalia, Marcello), neuen Konstellationen (Catherine besucht Tantraseminare: „Halte dich fest, Daisy! Aus irgendeinem Grund habe ich mich vor einiger Zeit bei einer Tantragruppe angemeldet!“ (306) auflöst.
Im Gegensatz zur titelgebenden „Spiegelfuge“, bei der der gesamte kontrapunktische Satz umkehrbar ist, sodass eine enge Verzahnung von Themeneinsätzen und kontrapunktischen Stimmen erreicht wird, stehen die Motive von Mumelters Roman nur lose verbunden nebeneinander. Vieles bleibt unklar, die Täterpsychologie ist nicht ganz schlüssig und die Funktion des Romans im Roman wird nicht weiter ausgeführt. Aber das muss sie auch nicht, denn umso deutlicher tritt die Brüchigkeit der Figuren und Handlungsstränge in den Vordergrund. „Ist er jetzt Constant, der träumt, Vincent zu sein, oder Vincent, der träumt, Constant zu sein?“ (288)

Martin Mumelter Spiegelfuge
Roman.
Innsbruck: Edition Laurin, 2015.
384 S.; geb.
ISBN 978-3-902866-32-5.

Rezension vom 02.11.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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