#Roman

Soviel man weiß

Florian Gantner

// Rezension von Alexander Peer

Das Wissen beruhigt die Protagonisten in Gantners Buch Soviel man weiß nicht. Im zehnten Wiener Bezirk ist dieser Großstadtroman angesiedelt, exakt in der Quellenstraße 63. Hier begegnet uns ein Ensemble an Figuren, das auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnte: Das Paar Agnes und Gernot, beide erfolgsorientiert in ihren Berufen und einer selbstbestimmten Zukunft gewiss, der Albaner Illir Zerai mit seiner Vergangenheit als Spitzel, die 40-jährige Mirjam, die ihrem Punkdasein nicht entsagen kann und beinahe aus folkloristischer Motivation heraus Teil einer Widerstandsgruppe ist, deren Schicksal auch darin besteht, für die ganz große Geschichte zu spät gekommen zu sein. Schließlich Marek, der verbummelte Student.

Das Misstrauen ist der Faden, der diese Geschichten verbindet. Gantner beweist Feingefühl für Details, denn seine Figuren gehen einem nahe dank ihrer anschaulichen Interpretation dessen, was um sie herum geschieht. Gleichzeitig enthüllt sich dadurch ihr neurotisches Potenzial, wenn beispielsweise Agnes gar nicht lange zu suchen braucht, um Indizien für Gernots Untreue zu finden. Das ist nicht frei von Komik, wenn sie etwa in der weiblichen Stimme eines schlichten telefonischen Antwortdienstes die verhängnisvolle Affäre ihres Partners vermutet. Ihr Argwohn gegenüber Gernot hält sie im Übrigen nicht davon ab, ihre sexuellen Neigungen mit anderen Männern auszuleben.
An Illir Zerai wiederum zeigt sich das psychosomatische Erbe seiner jahrzehntelangen Sozialisation in einer Autokratie. Das Albanien Enver Hoxhas bringt Gantner prägnant zum Ausdruck, die Inflation der Parolen und das subtile Kontrollgefühl, das einen Menschen lebenslang in Gewahrsam nimmt. In seinen Körper sind die Phrasen buchstäblich und sprichwörtlich eingekratzt. Als verlassener Senior bleiben ihm nur die Geister der Vergangenheit. Selbst in der unverfänglichen Begegnung mit der Nachbarin Agnes dienen Beiläufigkeiten als Material, um den Verfolgungswahn zu nähren. Agnes ist als Ärztin sachverständig und als Mensch kompensatorisch, weil sie den mutmaßlich an Krätze leidenden Illir auch ein Stück zum Distinktionsgewinn betreut. Bezeichnend für die vielschichtige Abhandlung des zentralen Themas Überwachung ist eine Sequenz über Evaluierung an der Klinik, an welcher Agnes arbeitet.
Mareks Misstrauen ist ein umgekehrtes. Es ist bestimmt durch die Projektion auf eine flüchtige Begegnung bei einer Party. Die Ungewissheit ihres Namens ist allein schon ein Beleg für die Distanz. Doch genau diese Distanz beflügelt die Phantasie, die in Mareks Alltag eines Flaneurs, der die eine oder andere Hanfidylle bereithält, immer wieder neu Gestalt annimmt. Die Realität würde ihn nur stören.

Das ökonomisch austarierte Erzählen setzt alle Protagonisten gleichermaßen plausibel in Szene. Mirjam will der Jugend nicht entwachsen. Mit ihrem Engagement in einer Antifa-Gruppe, die mehr und mehr als zusammengewürfelter Haufen ohne fundamentale Ideologie erscheint, versucht sie vor allem, eine Zugehörigkeit zu simulieren. Innere Verbundenheit bleibt ein Ideal. In der ersten Aktion der Gruppe mit der Bezeichnung Dakizo, einem aus der Bantusprache Swahili stammenden Wort für Protest, wird die Parole „Wir überwachen zurück!“ gesprayt. Dramaturgisch sinnvoll vor einer Kamera. Doch die mangelnde Identifikation brauchbarer Ziele und die für unsere Zeit signifikante Unsichtbarkeit des anderen (und damit die Unfassbarkeit ideologischer Feinde) trotz permanenter Veröffentlichung des Privaten in den sozialen Medien untergräbt selbst die hehren Ideale der Anomisten (statt Anarchisten). Der Begriff geht auf den Soziologen Durkheim zurück, der damit unter anderem die Deformation sozialer Regeln durch den Verlust religiöser Gebote beschrieben hat. Die Konsequenz ist letztlich ein diffuses Angstgefühl, das zum emotionalen Grundinventar des Alltags zählt. Für die heimliche Anführerin der Gruppe, Varizella, entpuppt sich dann auch die Schwester der Angst – die Wut – als entscheidende Kraft für ihr Handeln. Doch die Ursachen ihrer Aggression bleiben opak. Mirjams Abschied von der Jugend deutet sich an, als sie durch ein monetäres Erbe der Mutter von ihrer unentschiedenen Existenz Abschied nehmen kann.
Abschied nehmen heißt es am Ende auch für Marek, der einen Roman lang eine Unbekannte sucht und dabei allmählich erkennt, dass er diese Aufgabe ohnedies schon einmal erfolglos übernommen hat. Beim abwesenden Vater, der jahrelang durch Postkarten Präsenz fingiert, und der gerade durch seine Abwesenheit das Sehnen befeuert. Mit seiner Vorliebe für Listen betreibt Marek eine tragikomische Ordnungssuche.

Die Leistung des Großstadtromans liegt darin, die Verzahnung sozialer Milieus griffig darzustellen. Darin zeigt „Soviel man weiß“ seine Größe. Der Text ist ein Vergrößerungsglas für das nebulöse Gefühl von Fremdbestimmung und ungesundem Misstrauen. Der Autor ist ein erzählender Soziologe, der eine respektvolle Distanz zu seinen Figuren bewahrt, was ihrer Prägnanz guttut.
Nur einmal blitzt die Oberpinzgauer Herkunft von Gantner auf. Wenn auf Seite 53 Marek über die Sinnlosigkeit der Sportarten sinniert und dabei bekennt: „Am wenigsten versteht er die Faszination, die das Skifahren auf manche Menschen ausübt. Irgendwo hat er gelesen, dass sich knapp 60 Prozent der Österreicher regelmäßig in eine Schlange stellen, um auf einen Berg gebracht zu werden, von dem sie auf Skiern geradewegs hinunterfahren, um sich am hinteren Ende ebendieser Schlange wieder einzureihen.“ Hier verschafft sich das anarchische Gefühl des geplagten Skihassers ein wenig Luft. Es ist beinahe blasphemisch, wenn man um die Bedeutung des Skifahrens in Neukirchen oder Mittersill und flussabwärts der Salzach weiß.

Florian Gantner Soviel man weiß
Roman.
Salzburg: Residenz, 2021.
256 S.; geb.
ISBN 9783701717484.

Rezension vom 28.09.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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