#Roman

Sorge. Ein Traum

Martin Kubaczek

// Rezension von Alexander Kluy

Bereits am Anfang ist das Ende da. Und gewiss. Denn Richard Sorge weiß, wohin ihn sein letzter Gang führt – aufs Schafott. In den Tod. Nach dreijähriger Haft, es ist das Jahr 1944, geht er gefasst seiner Hinrichtung entgegen. Mit der ausschwingenden, detailreichen Coda setzt Martin Kubaczeks neuer Roman Sorge. Ein Traum ein. Und demonstriert damit bereits, dass all das, was beim Namen Sorge mitschwingt – Abenteuer, Spionageromantik, thrill – hier lediglich indirekt von Belang und Interesse ist. Schon die Koppelung des Namens Richard Sorge (1895-1944) mit dem Nomen „Traum“ verweist auf anderes, das Kubaczek weitaus stärker interessiert denn eine sklavisch korrekte Nachzeichnung der historisch verbürgten Geschehnisse um den kommunistischen Doppelspion.

Seit 1919 Mitglied der Kommunistischen Partei, arbeitete der in Aserbeidschan geborene Sorge, der im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland übersiedelt war, ab 1929 für den Nachrichtendienst der Roten Armee. 1933 wurde er nach Tokio entsandt, um dort ein sowjetisches Agentennetz aufzubauen. Getarnt als Korrespondent der renommierten deutschen Tageszeitung „Frankfurter Zeitung“ – und nicht, wie es bei Kubaczek an einer Stelle heißt, der „Frankfurter Rundschau“; letztere wurde erst nach Kriegsende, im Sommer 1945, gegründet – nahm Sorge Kontakt zur deutschen Gemeinde auf, wurde Mitglied der NSDAP, konnte sich rasch das umfassende Vertrauen des deutschen Gesandten erarbeiten und avancierte zum Berater einflussreicher Wirtschaftskreise. Diese Position bot ihm eine hervorragende Tarnung für seinen Spionageauftrag. Im Mai 1941 gelang Sorge sein größter Coup. Ein Kontaktmann nannte ihm das Datum des deutschen Überraschungsangriffs auf Rußland. Sorge leitete die Warnung sofort nach Moskau weiter, doch Stalin nahm die Berichte nicht ernst und vertraute dem Nichtangriffspakt mit Hitler mehr als seinem Agenten. Was letzterem dann zum Verhängnis werden sollte. Hatte er doch deutlich die schweren Fehler und nahezu verheerenden strategischen Versäumnisse des kommunistischen Diktators aufgedeckt. Im Oktober desselben Jahres wurde Sorge in Japan verhaftet.

Zahlreiche Biografien sind über ihn publiziert worden; in der verblichenen DDR wurden Straßen, Schulen und Kultureinrichtungen nach ihm benannt (die teils noch heute, aus Trotz? aus aufrechter antifaschistischer Tradition?, seinen Namen tragen). Hans-Otto Meissner ließ sich 1982 zu einem erzählerischen Buch um Sorge anregen, dem Untertitel zufolge ein „Roman nach Tatsachen“, und die Illustratorin Isabel Kreitz zeichnete im letzten Jahr einen Comicstrip.

Was nun Martin Kubaczek, der heute wieder als Autor in Wien lebt und sich zuvor fünfzehn Jahre in Japan aufhielt und dort als Dozent an Universitäten lehrte, an Sorge interessiert, ist seine Spiegelfunktion: als Transmitter einer anderen, nämlich der japanischen Kultur kurz vor und nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Entsprechend klug hat darauf auch sein Verlag reagiert und den Schutzumschlag nicht mit einem Porträt Sorges versehen, sondern mit einer partiell kolorierten Aufnahme einer Straßenszene.

Und diese Verfremdung ist durchaus doppelsinnig. Zum einen verfremdet Kubaczek die historische Entourage, indem er beispielsweise einen blinden Funker namens Voll einführt (während Sorges realer Funker ebenfalls verhaftet, 1945 aber freigelassen wurde und später in die DDR übersiedelte, wo er hoch betagt starb), ihn dann aber in einer anrührenden poetischen Szene in einem kleinen Fluchtboot still einem Herzinfarkt erliegen lässt – der Tote wird mitsamt dem Boot dem offenen Meer übergeben, auf das er treibt. Dieser Voll enthüllt Sorge auch reichlich en passant, dass er, Sorge, lediglich Ablenkung für die eigentlichen Spione der Sowjetunion gewesen sei.

Intensiv geschildert, mit starken, stets konkreten, farbgesättigten Bildern wird hingegen Japan: seine Kultur, seine Sitten, das Verhalten der Menschen, auch die einsetzende Transformation. Inklusive zarter ironischer Volten. Etwa wenn Sorge einen begabten Mechaniker kennen lernt, der Motoren entwickelt und Honda heißt. Inmitten dieser Schilderungen von Kirschblüte und Sprachgebaren steht Sorge als multipler Charakter: einerseits Lebemann und eifriger Sammler von Geliebten, andererseits rühriger Reporter. Der allerdings immer wieder vor Rätseln steht, nicht zuletzt vor dem Enigma der eigenen Psyche und der Unzulänglichkeiten eigener Gefühle. Er wird als permanent Zerrissener gezeichnet, der Informationen sammelt, von denen er zumindest im Roman weiß, dass sie von der Zentrale in Moskau weder geschätzt noch geglaubt werden. Dieses Psychogramm eines Fremden in einem fremden Land, eines restringierten Lebens in einem Land restingrierter Umgangsformen, wird aufgeblättert in Szenen, die keine direkte lückenlose Chronologie besitzen, sondern eher Schlaglichtern ähneln. Einer Szenenfolge, die ins Fiktive hinüberlappt. Und manches Detail, so die Liebesbeziehung zur japanischen Musikerin Ran, ausführlich ausmalt.

Schon an Martin Kubaczeks Prosabänden, etwa „Hotel Fantasie“ oder „Amerika“, wurde zuvörderst die Sprache hervorgehoben, sein sinnlicher Umgang mit Bildern und Farben, die melodiösen, sich immer weiter ausspinnenden, differenziert gestaffelten Satzperioden. Von denen viele ihre ganze Strahlkraft erst im lauten Vorlesen entfalten. Das ist auch bei diesem Roman wieder der Fall; teils noch stärker, noch unverstellter und einprägsamer als bei den Vorgängerbüchern. Schwelgerisch zeichnet Kubaczek nicht nur die japanische Landschaft nach, sondern eine erst überraschende, dann einleuchtende Fülle an minuziösen Details, und injiziert seiner Prosa eine überzeugende, nie falsch auftrumpfende Energie voller Leuchtkraft und energetischen Schwebens.

Martin Kubaczek Sorge. Ein Traum
Roman.
Wien, Bozen: folio, 2009.
288 S.; geb.
ISBN 978-3-85256-497-5.

Rezension vom 08.09.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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