#Sachbuch

Sophokles, Shakespeare und Tolstoi im Krankenhaus

Martin Sexl

// Rezension von Sabine Zelger

Was in mehreren Jahren erforscht und 2003 für ein hochspezialisiertes Publikum dokumentiert und ediert wurde, liegt nun als kleines feines Büchlein vor und lädt literaturwissenschaftlich Interessierte auf eine ganz spezielle Tour ein. Sie führt von einem breit abgesicherten Methodenfeld über die Auseinandersetzung mit Pflege sowie Medizin hin zu zweckgerichteten ästhetischen Erfahrungen im empirischen Teil.

Anhand dreier kanonisierter Texte der Weltliteratur sammelte der Autor und Literaturwissenschaftler gemeinsam mit sechs Krankenpflegerinnen für deren Beruf relevante Lesarten und erprobte den Zuwachs an Wahrnehmungsoptionen, die Revision eingefahrener Denkmuster sowie die Öffnung sprachlicher Zugänge. Das Forschungsprojekt mag auf den ersten Blick erstaunen und eine Reihe an Fragen aufwerfen: Warum Krankenpflegerinnen, warum Sophokles, Tolstoi, Shakespeare? Was macht der Literaturwissenschaftler mit seinem Spezialwissen, wohin sollen die ästhetischen Erfahrungen führen? Jedoch versteht es der Autor alle vorneweg verspürten Bedenken zu zerstreuen, indem er sachlich und fundiert seine Entscheidungen samt Entscheidungsfindungsprozess transparent macht.

Noch vor den Lektüren setzten sich Sexl und die Krankenpflegerinnen ein ganzes Jahr lang mit deren Arbeit und den darin liegenden Herausforderungen auseinander, woraus sich die Grenze als Schlüsselkategorie für das weitere Vorgehen anbot: Grenzziehungen, Grenzerfahrungen, erkenntnistheoretische, moralische, emotionale Grenzen. Der sprachlichen Grenze, mit der die Krankenpflegerinnen immer wieder konfrontiert seien, v. a. hinsichtlich des schwer formulierbaren, oft impliziten Erfahrungswissens, wird naturgemäß ein besonderer Raum zugewiesen. Bei der Suche nach einer Sprache für dieses reichhaltige Reservoir wird die zunehmende Verwissenschaftlichung der Pflege sowie der hegemoniale medizinische Diskurs diskutiert, werden diverse Konflikte zwischen ÄrztInnen und Pflegepersonal, Spezialistentum und ganzheitlichem Selbstverständnis reflektiert.

Nach diesen Themen und Aspekten hat der Autor die Literaturauswahl getroffen und den Schwerpunkt auf klassische, nicht psychologisierende Texte bzw. Dramen gelegt, die Gefühle und Handlungen zeigen und nicht erklären und damit über die ästhetische Erfahrung den beruflichen Erfahrungen der Leserinnen Sprache verleihen könnten. Martin Sexl schreibt dazu: „Die Grenzerfahrung der Krankenpflegerinnen bleibt der Sprache der Medizin entzogen, bleibt aber dennoch nicht sprachlos, da sie -als eine Möglichkeit der Überwindung von Sprachlosigkeit -im Medium literarischer Rezeption zur Darstellung gebracht werden kann.“ (S.103) Entscheidend für das Aufbrechen der Sprachlosigkeit, aber auch für die zahlreich formulierten Ziele – durch literarische Texte berufsspezifische Probleme anders, vielfältiger wahrzunehmen, sie als „Quelle ethischer Überlegungen“ (S.101) zu nutzen usf. – ist jedoch das empirische Setting, in dem die verschiedenen Lesarten ausgetauscht, hinterfragt und erweitert werden. Dafür ist viel Zeit notwendig, die im Projekt ausgiebig in Anspruch genommen und intensiv genutzt wurde. Dafür ist es aber auch nötig unkonventionelle, nicht-wissenschaftliche Lektüren und Aussagen über Literatur zuzulassen. Das Buch führt in vielen Details vor, wie umsichtig und wertschätzend der Autor mit den Beiträgen der Leserinnen umgegangen ist. Umso mehr verwundert der Titel bzw. der Untertitel der Publikation, der suggeriert, dass hier Krankenpflegerinnen erstmalig oder einmalig -quasi zur Belustigung eines Publikums – literarische Texte lesen.

Dabei spricht Sexls Buch durchwegs ein breiteres Publikum an und könnte verschiedene LeserInnen aus dem pflegerischen und medizinischen Breich gewinnen. Der theoretische Teil macht auch für fachfremde, d.h. nicht literaturwissenschaftlich geschulte RezipientInnen nachvollziehbar, wie notwendig Ab- und Ausgrenzungen, Grenzziehungen zwischen Lektüren, Fachgebieten oder Methoden sind und wofür das Aufzeigen und Verschieben von Grenzen nützlich sein kann. Interessanterweise kristallisiert sich dabei ein ähnliches Spannungsfeld heraus, wie es der Autor für den medizinischen und pflegerischen Diskurs ausmacht: nämlich zwischen dem hegemonialen wissenschaftlichen Diskurs mit Definitionsmacht und der vorerst erfahrungsgeleiteten nicht professionellen Lektüre von Texten, deren Relevanz es zu verteidigen gilt. Wie die beiden Parts praktisch verknüpft werden können, zeigt der zweite Teil, in dem sich über Handlungen und Gefühle der Antigone, des Iwan Iljitsch, des König Lear und deren Nebenfiguren spannende Auseinandersetzungen mit den Berufserfahrungen der Krankenpflegerinnen finden.

So detailliert und ausgreifend der Praxisteil gestaltet ist -so knapp ist der Schlussteil des Buches, ja das Ende fehlt. Die aufgeworfenen Fragen im Theorieteil, die angesprochenen Lesarten und diskutierten Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten im praktischen Abschnitt werden nicht mehr zusammengeführt oder ausgewertet. Beabsichtigt der Autor die LeserInnen selbst entscheiden zu lassen, was die Methode, die hier vorgeführte zweckgerichtete Lektüre und gemeinsame Diskussion anhand literarischer Texte gebracht hat? Haben wir uns das Resümee selbst zu erarbeiten? Ich hätte gerne eine Zusammenfassung des Autors gelesen und etwas über Weiter- oder Fortsetzungen des Projekts erfahren. Zumal der aufgezeigte Umgang mit Literatur, der Zugänge zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen schafft, überzeugt. Sie zu nutzen bedeutet auch die Zusammenarbeit zwischen sensiblen Forschern wie Martin Sexl und Personen aus dem wissenschaftlichen sowie ganzheitlichen Bereich der Pflege und Medizin auszubauen. Vielleicht kommt dann auch experimentell moderne Literatur zum Zug?!

Martin Sexl (Hg.) Sophokles, Shakespeare und Tolstoi im Krankenhaus
Krankenpflegerinnen lesen literarische Texte.
Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag, 2006.
190 S.; brosch.
ISBN 3-7065-4292-7.

Rezension vom 11.06.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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