#Roman
#Debüt

Sommerholz

Harald Kollegger

// Rezension von Sabine Schuster

Der Neurologe und Psychiater Harald Kolleger hat mit seinem ersten Roman Sommerholz eine spannende Kriminalgeschichte geschrieben, gleichzeitig eine Art Entwicklungsroman, dessen Held durch psychische und körperliche Ausnahmesituationen einen schmerzlichen Reifungsprozeß erfährt.
Schauplatz der Handlung ist Österreich im Jahr 2013: Esoterik und Psychologie, FURC(Fun, Restauration & Cure)-Projekte, Müll-Operetten, sektenartig agierende Immortalisten und europaweite PC- und Telefonobservierung bestimmen den Alltag. Wellness-, Event- und Seminarkultur arten in veritable Trash-Science-Fiction aus, dann wieder meint es der Autor doch sehr ernst mit seinen Figuren und ihren Befindlichkeiten.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Koch und gelernte Hostienbäcker Donat Etsch, dessen Leben durch mehrere gewaltsame Ereignisse völlig aus den Fugen gerät. Die Kette des Unheils beginnt bei einem Survival-Seminar in den Bergen, an dem Etsch gemeinsam mit der ganzen Belegschaft seiner Großküche teilnimmt. Man stelle sich vor: eine ratlose Spitals-Küchenbrigade, eine auf positive Affirmationen pochende Seminarleiterin namens Dr. Freuchen, leere Worte, gekünstelte Gefühle, dazu Alpinübungen zur Stärkung des Teamgefühls. Etsch flüchtet wutschnaubend durch den peitschenden Regen und findet Ruhe beim Anblick eines Steinadlers, der in ihm das Heimweh nach seiner Tochter Martha weckt. In einer Aufwallung von Liebe und schlechtem Vatergewissen kauft er ihr ein Mountainbike als Andenken an die unvermutete Begegnung mit dem König der Lüfte (S.16).
Dann geht alles Schlag auf Schlag: Beim ersten gemeinsamen Radausflug wird Martha von einem Auto überfahren und stirbt. Wie aus der Ferne registriert Etsch Schmerz und Schuld, die Scheidung von seiner Frau Katharina, das unwirkliche Weiterleben.

In seiner Trauer wird Donat Etsch zum willenlosen Opfer eines Komplotts: Es geht um eine angeblich verschollene Jugendfreundin, bald aber um ein Verbrechen und um das nackte Überleben. Nach einer unglaublichen Verfolgungsjagd durch die nordwestliche Vorstadt von Wien strandet der bewußtlose Etsch, ausgesetzt in einem Boot wie ein Findelkind, am Ufer des Irrsees. Sein Retter ist Googol von Matsch, Herr von Sommerholz, Musical- und Wellness-Millionär. Er nimmt den Fremden mit und versteckt ihn (aus Neugier und Langeweile?) in einer Waldhütte auf seinem Anwesen.

Der Findling Donat Etsch entpuppt sich als äußerst renitenter Ziehsohn, mißtrauisch widersetzt er sich den therapeutischen Versuchen seines undurchsichtigen Gastgebers und dessen verliebter Nichte Xaviera, genannt Zaff. Anstatt dankbar seine Geschichte preiszugeben, nachtwandelt er als Adler durch das Haus und hört auf zu sprechen. Unterstützung erhält er von der zwergwüchsigen Bildhauerin Ledwina Quint, die im Banngraben am anderen Ende des Sees lebt und den Zumutungen der Welt ebenfalls Schweigen entgegensetzt. Etsch verläßt immer wieder heimlich seine Hütte und kocht für Ledwina, während sie mit Hammer und Meißel „plastische Fragen aufwirft, in deren Schatten er genesen kann“. (259f.)

Die Zeit auf dem Anwesen des Googol von Matsch endet nach einigen Monaten jäh in einer nächtlichen Gewaltorgie, die als „Fiasko von Sommerholz“ in die Geschichte eingeht. Etsch kann rechtzeitig flüchten, der genaue Ablauf der Ereignisse bleibt jedoch im Dunkeln. Jahre später geführte Interviews mit den versprengten Überlebenden ergeben am Ende nur ein bruchstückhaftes Bild der fraglichen Nacht – subjektive Perspektiven, Vergessen und Verschweigen …

Apropos Perspektiven: Der Roman beginnt zwar mit einem gewissenhaften Erzähler, mit fortschreitender Handlung mischen sich jedoch die Figuren selbst ein. In Sommerholz spricht meist der Hausherr Googol von Matsch, dann fährt immer wieder die (innere) Stimme Ledwina Quints mit manischen, vom übrigen Text isolierten Traktaten dazwischen. Während die Handlung stagniert, brechen Monologe und Träume als barocke Sprachlawine über den Leser herein, sogar der Verweigerer Donat Etsch gibt dem „Nachtvogel, der in ihm kreischt“ eine Stimme und feuert einen seitenlangen Wortschwall auf seine Umgebung ab.

Dieser sprachliche Furor stoppt die anfangs rasante Handlung und zwingt zu langsamer, kontemplativer Lektüre, zur Auseinandersetzung mit den hermetischen Innenwelten der höchst eigenwillig strukturierten Protagonisten, wobei man der Auflösung der Kriminalgeschichte keinen Schritt näher kommt.
Wer jedoch ausreichend Geduld hat, wird mit dem wunderbar schwebenden Schlußkapitel „Destrudo“ belohnt: Interviews mit den Beteiligten, neun Jahre später geführt – ein poetisches Arrangement aus Beobachtungen, Erinnerungen, Gefühlen … diesmal unter dem Motto „Weniger ist mehr“ in protokollarischer Knappheit und sprachlicher Dichte!

Harald Kollegger Sommerholz
Roman.
Innsbruck: Haymon, 2001.
279 S.; geb.
ISBN 3-85218-349-9.

Rezension vom 09.04.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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