#Roman
#Prosa
#Debüt

Sommer wie Winter

Judith W. Taschler

// Rezension von Gerald Lind

Judith W. Taschlers Sommer wie Winter ist zwar ein Debütroman, aber dennoch ein stilistisch und erzähltechnisch reifes Buch. Souverän verknüpft die Autorin die narrativen Fäden zu einem komplexen Geschichtennetz, stilsicher schreibt sie die Rede der authentisch, ja lebendig erscheinenden Figuren. Die Sicherheit der Autorin verleiht Sommer wie Winter eine gewisse Schwerelosigkeit oder Leichtigkeit, obwohl das Buch von sehr schwierigen Themen handelt: Herkunftstraumata und Schuld, Tabu und Verbot, Alterität und Identität, Anpassung und Ausgrenzung, die Liste der semiotischen und diskursiven Referenzrahmen des Textes könnte beliebig fortgesetzt werden. Dabei liefert Taschler keine letztgültigen Wahrheiten, sondern erzeugt Zonen der Ambivalenz, der konfrontativen Interpretationen von Welt. Dies gelingt über die multiperspektivische Struktur des Romans: Mitglieder der Söllner Bauern- und Hoteliersfamilie Winter erzählen in einer Serie von Therapiegesprächen ihre Familiengeschichte im Hinblick auf das Pflegekind Alexander Sommer. Alexander selbst erhält den größten textuellen Raum, ohne dass aber seine Lebensnarration unhinterfragt bleibt oder seine Erzählungen als Metawahrheiten außerhalb des familiären Relationssystem verortet werden.

Der Hintergrund der Therapiegespräche erschließt sich der Leserin/dem Leser nur langsam. Schon zu Beginn ist allerdings klar, dass etwas Außergewöhnliches, etwas außergewöhnlich Schreckliches passiert sein muss. Der 19-jährige Alexander und seine fast gleichaltrige Stiefschwester hatten einen Unfall unter zunächst diffusen Umständen. In den von Jänner bis April 1990 abgehaltenen Therapiegesprächen werden diese Umstände beleuchtet, wird die Familiengeschichte aufgerollt.

Alexander kam im Alter von vier Jahren zur Familie Winter, auf Betreiben des Vaters und obwohl es bereits drei Töchter im Hause gab. Schnell wird er vom Arbeitssystem der Familie aufgesaugt, er muss im Stall helfen und die Urlauber unterhalten. Über seine Herkunft „habe ich aber nicht[s] gewusst, das haben die Eltern mir nie erzählt. Darüber ist einfach nicht geredet worden.“ (47) Erst in der Pubertät erfährt er, dass seine Mutter ausgewandert sein und ihn zurückgelassen haben soll.

Auf dieser Wissensbasis versucht sich Alexander einen Ursprungsmythos zu schaffen, imaginiert er die Mutter als außerwöhnliche Frau, die in Neuseeland als Künstlerin lebt. So kann die Mutter zur Identifikationsfigur und Projektionsfläche werden, wird ihr vorgestelltes Ausbrechen aus den sozialen Zwängen zum Vorbild und ihre Herkunft (die Mutter ist Italienerin) zur Erklärung für das eigene Anderssein. Doch die realen Nachforschungen in Innsbruck führen Alexander zu einem Herkunftsort, der in einer verwahrlosten Wohnung besteht, und zu übler Nachrede in Bezug auf die Mutter. Der leibliche Vater bleibt bei all diesen Re- und Exkursen eine merkwürdige Leerstelle, während sich im Hinblick auf den Pflegevater das frühkindliche Trauma des Verlassenwerdens wiederholt, als die Winters doch noch einen Sohn bekommen. Alexander, der von seinen Pflegeeltern zuvor schon gegenüber den Töchtern benachteiligt wurde, wird nun wie ein „Knecht“ (101) behandelt.

In manchen Passagen, die von der Arbeit am Hof und im Gastbetrieb handeln, erinnert Sommer wie Winter an Franz Innerhofers Schöne Tage. Innerhofer schreibt in seinem Buch vom „Bauern-KZ“ und man könnte hier, sieht man von der Problematik der Metapher ab, etwas Ähnliches über den Landwirtschafts- und Tourismusbetrieb sagen. Auch die rigide Welt des Dorfes kann im Kontext der Antiheimatliteratur verortet werden. Eine Tochter der Winters, die in Innsbruck studiert, erzählt von einer Seminararbeit, in der sie das von Familie, Kirche und Arbeit geprägte soziale Regelwerk, die Gebote und Verbote des Dorfes beschreibt: „Ohne das Einhalten dieser ganzen Regeln gibt es kein reibungsloses Einfügen in die dörfliche und kirchliche Gemeinschaft. Auch keinen tadellosen Ruf. Und das ist das einzig Wichtige hier. Das ist es, was zählt.“ (58–59) Doch an diesem Beispiel lässt sich auch demonstrieren, dass Taschler bei keinem Thema ihres Romans stereotypisierend einseitig verfährt: „Glauben Sie, im Dorf leben wir wie im Mittelalter?“, sagt beispielsweise die älteste Tochter der Winters schon zu Beginn des Romans. So gibt es immer wieder Passagen, die auf die Gleichzeitigkeit der Lebensweisen im Dorf verweisen, das Aufeinanderprallen von vormodernem Bauernleben und hypermoderner Tourismusindustrie ist ja für das, um Freud zu paraphrasieren, Unbehagen in der Dorfkultur mitverantwortlich.

Diese Konfrontation der Lebensstile zeigt sich auch in der Figur einer Gymnasiastin aus der Stadt, die sich in Alexander aufgrund seiner aus ihrer Sicht bäuerlichen Exotik verliebt. Allerdings ist die Faszination kurzlebig, beim nächsten Besuch kommt sie bereits mit ihrem städtischen Freund und lässt Alexander links liegen. In dieser Situation wird nun auch ein weiteres Thema des Romans und damit eine ganz wesentliche, Plotstruktur und Figurencharakterisierung bestimmende Folie von Sommer wie Winter sichtbar: Alexanders Stiefschwester Manuela überschreitet mit ihrer Mechanikerlehre nicht nur die Geschlechterordnungen im Dorf, sondern mit ihrer – nicht nur, aber auch – aus Rache an der Städterin veranstalteten Inszenierung einer Affäre mit Alexander das von Freud als zentral für die Formatierung von Kultur/en verstandene Inzesttabu: „Ja, und wie dann alles rausgekommen ist im Dezember, da habe ich gleich an die Manu denken müssen und daran, wie sie den Alexander geküsst hat, vor allen Leuten.“ (176) Das Inzesttabu, das ja zum Beispiel auch in Musils Mann ohne Eigenschaften wichtig ist, verweist wie die Therapiegespräche und die Figurencharaktersierungen meines Erachtens darauf, dass Taschler für ihren Roman fruchtbar aus dem psychoanalytischen Themenrepertoire geschöpft hat. Das gilt im Übrigen auch für das Motiv des Vatermords, das Taschler invertiert und gleichzeitig fortschreibt.

Es ist ein deutlicher Qualitätsindikator und spricht für den Roman, dass hier nur wenige seiner zentralen Themenfelder und Aspekte angeschnitten werden konnten. Sommer wie Winter lädt aufgrund seiner hohen symbolischen Dichte und narrativen Differenziertheit zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Text ein. Wie Alexander letztendlich die – sofern das möglich ist – wahren Umstände seiner Herkunft und Lebensgeschichte entschlüsselt, so kann die Leserin und der Leser die verschiedenen Schichten von Judith W. Taschlers Erzählkosmos freilegen. Dass Taschlers Roman dabei auch noch mit einer spannenden Krimihandlung aufwarten kann und es sich hier um einen klassischen „page-turner“ handelt, tut der Freude über dieses gelungene Debüt natürlich ebenfalls keinen Abbruch.

Sommer wie Winter.
Roman.
Wien: Picus Verlag, 2011.
200 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-85452-671-1.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 15.02.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.