Denn der Comic eröffnet mit folgender Splash Page: Die Leser:innen folgen dem Blick der gezeichneten Figur auf ihr Tagebuch, vier in einem Halbkreis darum angeordnete Sprechblasen zitieren die erste Strophe von Pure Morning: „A friend in need’s a friend indeed / A friend with weed is better / A friend with breasts and all the rest / A friend who’s dressed in leather“. Im Kontrast dazu steht das Tagebuch, das vom Verlassenwerden erzählt. Groß geschrieben ist das Wort „Einsamkeit“.
Freundinnenschaft, Begehren, Liebe(skummer), Klasse, sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt, Verlassenwerden und eine abwesende Mutter sind die zentralen Themen von Rehrmbachers Comic, der zwei Mädchen und ihrem Erleben eines Sommers in einem Dorf folgt. Rehrmbacher, die bisher vor allem durch die beiden posthumanistischen Comics Kreuz I und Kreuz II bekannt war, vollzieht mit dieser autobiografischen Arbeit nicht nur eine radikale inhaltliche, sondern auch eine stilistische Transformation. Während sich die beiden Kreuz-Comics durch klare Schwarz-weiß-Strukturen auszeichnen, ist Sommer. In einem Dorf. von weichen Zeichnungen bestimmt, oft ganzseitig, ohne klare Panelstruktur, in deren unterschiedliche Schwarz- und Grau-Abstufungen immer wieder die Farbe Rot eingeflochten ist, um andere, (vergangene) Handlungsebenen aufzumachen.
Was an dem Comic besonders auffällt, ist seine dramatische Ausrichtung. Rehrmbacher entwirft nämlich ein Drama in neun Stationen, jeder Station ist ein Nebentext zur Situierung vorangestellt und dem gesamten Drama ein Verzeichnis der Dramatis personae, die namenlos bleiben. Neben den Protagonistinnen ICH und DU, beide 13-jährig, gibt es noch neun weitere Figuren, die durch Pronomen und Rollenbezeichnungen eingeordnet werden, wobei die zuletzt angeführt Figur, MEINE MUTTER, „nur als Abwesende in Erinnerungen“ auftritt.
Was Sommer. In einem Dorf. durchwegs kennzeichnet, ist das Spannungsfeld zwischen Identifikationsangeboten (Pure Morning) und der Verweigerung von Identifikation, wodurch das Geschehen in eine kritische Distanz gerückt wird. Dafür stehen die fehlenden Namen ein, aber auch die Aneinanderreihung der einzelnen Szenen, die Einblicke in den titelgebenden Sommer geben, diesen aber nicht vollständig erzählen wollen. Rehrmbacher macht ihren eigenen künstlerischen Anspruch schon durch eine klare literarische Einordnung deutlich. Als Motto dient ein Zitat aus Elfriede Jelineks Ibsen-Adaption Was geschah nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft und auch die betonte Setzung von Punkten im Titel, die an Marlene Streeruwitz denken lässt, verweist die Leser:innen in eine selbstreflexive Distanz und lässt über die Form nachdenken.
Ein wichtiges formales Element ist zudem das Spiel mit den Figur-Text-Beziehungen, die für das hybride Medium Comic immer interessant sind, aber von Rehrmbacher noch weiter vorangetrieben werden als sonst üblich: Die Sprechblasen sind oft dominant, scheinen das Geschehen zu überlagern, Figuren und Räume verschwinden hinter ihnen. Es entsteht eine Distanz zwischen dem Gesagten und den Figuren – und während Rehrmbacher bei den Zeichnungen oft das Augenmerk auf Details legt, auf Nahaufnahmen der Figuren, ihre Mimik oder Interaktionen und das szenische Moment herausarbeitet, führt der Text die Alltagskonversationen weiter, die eben einen Sommer in einem Dorf auch ausmachen. Mit Bezug auf die Jelinek’schen Textflächen könnte man sagen, dass diese von Rehrmbacher sozusagen visualisiert werden.
Jasmin Rehrmbachers neuer Comic ist inmitten des Booms autobiografischer Comics wagemutig neu, geht vom Erzählenden zum Dramatischen, nuanciert das Spiel mit der Form und dabei das Fragmentarische der Erinnerung in der szenischen Abfolge und fängt das bedeutsame Vakuum eines Sommers. In einem Dorf. atmosphärisch eindrücklich ein.
Marina Rauchenbacher ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin sowie Kulturvermittlerin. Im Sommersemester 2025 ist sie als Gastprofessorin am International Research Center Gender and Performativity (ICGP) der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) tätig. Zuvor hat sie unter anderem im Forschungsprojekt Visualitäten von Geschlecht in deutschsprachigen Comics gearbeitet. Sie ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Comics (OeGeC) sowie Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Kulturanalyse (aka). Für das Sigmund Freud Museum Wien kuratierte sie unter Mitarbeit von Daniela Finzi die Comic-Ausstellung Gewalt erzählen (20. Oktober 2023 bis 8. April 2024).