„Ich hab die Maus mit jenem Beil erschlagen,
mit dem ich sonst immer Holz hacke.
Aber es war nicht wie Holz.
Beim ersten Schlag war ich zu zaghaft.
Beim zweiten quoll ihr ein Auge raus.
Und auch der dritte war nicht stark genug.“ (7)
„Die Maus“ heißt dieses Gedicht am Anfang des Romans, das für Dani sinnbildlich sein Verhalten gegenüber Annemarie beschreibt. Allerdings stammt es, wie er mehrfach betont, nicht von ihm. Vielmehr sei er erst Jahre nach dem Beziehungsende, „als ich schon längst nicht mehr an sie dachte, in einer Literaturzeitschrift“ (7) darauf gestoßen. Womit gleich noch ein vierter Schlag ausgeführt wird, nämlich einer auf den Kopf des oder der Lesenden.
Zumindest wenn dieser oder diese nach kurzer Websuche feststellt, dass dieses Gedicht 2013 in der Literaturzeitschrift manuskripte von einem gewissen Andreas Unterweger veröffentlicht wurde. Dem Autor des Romans also, der laut übereinstimmenden Quellen in Graz und Nantes studiert hat und mittlerweile als Herausgeber der manuskripte fungiert. Wie ist das nun also, fragt man sich. Und genau das soll man wohl auch. Die erzählerische Finte führt nämlich eine von Spekulationen über das reale Autorleben abhebende Leseweise in die fiktionale Sackgasse, verweist aber gleichzeitig eben doch auf die Verankerung des Romans in der außerliterarischen Wirklichkeit.
Diese Verankerung betrifft nun keineswegs (nur) Details zur Autor-Figur, sondern liegt vor allem in den genauen Alltagsbeschreibungen des Protagonisten und dem daraus generierten „Feeling“ des Romans. So hat es sich tatsächlich angefühlt, das mit Lektüren, langen Nächten und mehr oder weniger glücklichen Lieben verbrachte Leben eines etwas neurotisch veranlagten Geisteswissenschaftlers auf Studierendenaustausch im akademischen Jahr 2001/02. Zumindest – subjektive Einschränkung und außernarrative Volte – war das so für den Autor dieser Rezension, der im selben Jahr wie die Romanfigur seinen Erasmus-Austausch absolvierte, wenn auch im schottischen Edinburgh.
Diese im Rezensentenfall zufällige Verflüssigung der Grenzen zwischen Gelesenem und Selbsterlebtem ist nun in So long, Annemarie ein wesentliches Gestaltungsprinzip. Wenn Dani sich für literaturwissenschaftliche Seminare mit Rimbaud und Verlaine, Stendhal und dem Tristan-Fragment des Thomas d’Angleterre beschäftigt, dann werden die Autoren und Texte zu Folien für sein eigenes Erleben. Aus dem Pärchen, das im Waschsalon die Münzbüchsen plündert, wird eine Bonnie-&-Clyde-Version von Tristan und Isolde, während synchron dazu Erkenntnisgewinne aus der Lektüre wie Beziehungsmomente mit Annemarie reflektiert werden. Unterwegers Roman erlangt durch dieses kontinuierliche Ineinanderübergehen von Lektüre(n) und Leben, durch die vorgeführte Deutung der Welt aus der Literatur und die Deutung der Literatur aus der Welt eine über rein intertextuelle Aspekte deutlich hinausweisende Tiefendimension.
In So long, Annemarie gehen aber nicht nur Lese-Erfahrungsebenen ineinander über. Wiewohl es eine geradezu klassisch-lineare Strukturvorgabe gibt – „das ganze lange Jahr in Nantes“ (10) – ist der Roman alles andere als eindimensional erzählt. Strukturbestimmend ist hingegen ein grenzüberschreitendes Flirren zwischen Zeiten und Räumen, zwischen Begebenheiten aus Dichterbiographien und Danis Biographie, zwischen Nantes, Schauplätzen in halb Europa und Sevilla, wo Annemarie ihr Auslandsjahr verbringt. Hin und wieder kann das für Konfusion bei der Lektüre sorgen – wo sind wir jetzt, fragt man sich, was passiert da gerade? Viel häufiger aber ist der Effekt, dass die räumlichen und zeitlichen Ineinanderschreibungen unerwartete Analogien sichtbar machen und scheinbar Singuläres – das Ende einer Liebe – als Variation von Vergangenem rahmen. Besonders eindrücklich gelingt das, wenn der Beziehungsshowdown mit Annemarie in Sevilla parallel zur Zusammenkunft von Dani mit seinem Kumpel Bonzo und dessen neuer Freundin Chappi in Paris erzählt wird.
So long, Annemarie bezeugt einmal mehr, dass Andreas Unterweger der seltene Glücksfall eines Autors ist, der ebenso zugänglich und unterhaltsam wie literarisch komplex, ja anspruchsvoll schreiben kann. Wer will, kann diesen Roman über seine vielgestaltigen narrativen Falltüren und inter- wie intratextuellen Unterkellerungen erkunden. Man kann sich aber auch einfach auf die Leiden (und Freuden) des jungen Dani einlassen, bisweilen sympathisierend mitleiden oder distanzierend den Kopf schütteln. Mag sein, dass der Schluss von So long, Annemarie – Spoiler Alert! – ein bisschen zu sehr Happy End mithilfe eines Deus – hier einer Dea – ex machina ist. Letztlich aber passt sein Ende sehr gut zu diesem wunderbaren Roman, der zwar mit September 11 und ins Paranoide blinzelnden Beziehungsmäusen beginnt, letztlich aber ein optimistisches, auf die Möglichkeit von Erlösung und Glück verweisendes Buch geworden ist. Und ein solches kann man gerade in Zeiten wie diesen nur allzu gut gebrauchen.