Stattdessen schrieb die Autorin ab März an ihrem Covid-19-Roman So ist die Welt geworden, dessen Episoden fortlaufend auf ihrer Website abrufbar waren. „Ein politisches Forschungsprojekt mit literarischen Mitteln“ sei dieser Roman, und im Kontext der seit 2001 erschienenen Wahlkampfromane zu sehen, die Marlene Streeruwitz ebenfalls online veröffentlicht hat. Im Oktober ist So ist die Welt geworden als 13. Roman der Autorin in der Wiener Edition bahoe books erschienen.
Streeruwitz‘ dezidiert feministischer Standpunkt, der Teil eines umfassenden politischen Engagements ist, grundiert auch das vorliegende Covid-19-Buch. Die aktuelle Krise ist schließlich Teil eines großen Ganzen, dessen destruktive Mechanismen die Autorin seit vielen Jahren scharfsichtig vor ihren Leserinnen und Lesern ausbreitet.
Betty Andover heißt ihre neue Heldin, sie ist Autorin und klar als Alter Ego von Marlene Streeruwitz zu erkennen. Im Lockdown ganz allein in ihrer Wohnung, überfällt sie die Angst vor der Krankheit und dem Alleinsein, sie beobachtet die Pressekonferenzen im Fernsehen, den Bundeskanzler: „Hatte der nicht wie Waldheim geredet? (…) Und hatte der Kanzler sich nicht auch wie Waldheim bewegt? Die Arme ausgebreitet und um Verständnis gerungen? Und wie konnte dieser Kanzler so fürsorglich für die Risikogruppe an alle appellieren und zur gleichen Zeit den Flüchtenden in Griechenland die Frontex an den Hals schicken? War es dieser Widerspruch gewesen, der den Waldheim im Sebastian Kurz zum Vorschein gebracht hatte?“ (11)
In der Müdigkeit vom Ansturm der Nachrichten und Spekulationen beschließt die Romanfigur Betty Andover, auf eine psychotische Situation selbst psychotisch zu reagieren. Sie erschafft sich zwei weitere Figuren, Fiorentina und Irma, „erdachte Hilfstruppen“, um ihren inneren Monologen Kontur zu verleihen. Fiorentina, eine Person wie aus einer frühen Brigitte-Zeitschrift, erinnert die Heldin an ihre Mutter, an deren Disziplin, äußere Perfektion und innere Unterordnung – „solche Pumps hatte ihre Mutter getragen, weil ihr Vater das so gewollt hatte.“ (19) Irma dagegen ist empathisch, klug und positiv gestimmt. Als ungebetener Gast schummelt sich immer wieder Edwin dazu, der Mann, den sie hatte vergessen wollen und der überdeutlich an das Liebes-Fiasko im Roman Flammenwand erinnert. Dort hieß diese Figur Gustav, doch Namen sind Schall und Rauch in diesem zeitlos gültigen, öffentlich sanktionierten Schema des Betrugs.
„Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! Ihr Ungeheuer mit Namen Hans! Mit diesem Namen, den ich nie vergessen kann. (…) Ja, diese Logik habe ich gelernt, daß einer Hans heißen muß, daß ihr alle so heißt, einer wie der andere, aber doch nur einer.“
(Ingeborg Bachmann: Undine geht. 1961)
Zu den Fiktionen des Unbewussten kommt das Ringen um die finanzielle Existenz: das Ansuchen beim Härtefonds, die KUR- und GLN-Nummern, die Hürden des elektronischen Formulars. „Milliarden sollten ausgeschüttet werden. Die 1.000 Euro, um die sie da ansuchte. Das war keine Schüttung. Das war eine Tröpfelei.“ (22) Und dann die Verlegerin – niemand will einen neuen Text haben! „Schreib einen Roman mit einem jungen Mann als Hauptfigur“, rät die propere Fiorentina. „Über einen von diesen aalglatten Typen, die gerade an der Macht sind.“ „Ein Roman darüber, wie diese Krise instrumentalisiert wird. Das wird nicht aus der Mode kommen. Aber du musst es leicht nehmen. Deine schwierige Prosa. Die will jetzt wahrscheinlich wirklich niemand lesen“, schiebt Irma nach. (77)
So leicht nimmt es Marlene Streeruwitz dann doch nicht. Zum Glück! Auch in der scheinbar improvisierten Tagebuchform und dem vordergründig politischen Kontext legt sie Wert auf literarische Verdichtung. So führen harmlose Gegenstände wie Kleidungsstücke, Schuhabsätze oder ein Polster (Episode 12, S. 195, siehe Leseprobe) mitunter tief hinein in Bettys Gefühls- und Gedankenwelt, die wiederum den Blick nach außen fokussiert. So manche leicht hingetupft wirkende Beobachtung erweist sich beim Weiterlesen als sorgfältig gesetztes Steinchen in einem insgesamt stimmigen Mosaik.
Zu Ostern etwa das Bild des Papstes mit einem künstlichen Palmwedel in der Hand. „‚Nella basilica deserta‘ stand darunter. Der Palmwedel war aus breiten, blonden Holzlocken gemacht, die auf einer langen Stange montiert waren. Solche Palmwedel aus hellen Holzspänen hatten sie gekauft. (…) Wann waren sie zu Ostern in Italien gewesen? Wie lange war das her? Auf dem Bild. Der Papst schaute sehr verloren drein. Er ist auch nur ein alter Mann, der sehr weit weg von zu Hause lebt, dachte sie. Es war aber das Wort ‚deserta‘, das sie fast zum Weinen gebracht hätte. In diesem ‚verlassen‘ war auch gleich die Wüste enthalten, in der die Verlassenheit gelebt werden musste.“ (26)
Beim Hinausschauen aus der Wohnung rutscht „das Draußen immer weiter weg“, und ein am letzten Tag vor dem Lockdown gekauftes Rosenbäumchen soll über die entgangene Buchmesse mit Preisverleihung hinwegtrösten. Als urösterreichisch, geradezu patriotisch profiliert sich die Heldin mit ihrer Liebe zum „Wiener Schnitzel“, wohlig erinnert sie sich an „Schnitzelwallfahrten“ in den Gasthof „Zur Sonne“ in Tulln, an das echte, in der Pfanne gebratene Wiener Schnitzel als Symbol für Wohlbefinden und Ordnung, um im nächsten Gedankengang die „krakelige“ Panier des modernen Fritteuse-Schnitzels als „frühes Symptom neoliberaler Sparmaßnahmen“ dingfest zu machen. „Das Rechtsrutschen des Politischen hatte ja schon längst in den 80er Jahren begonnen. Die Denunziation des Sozialen als Ausbeutung des Fähigen.“ (29)
Dieselbe politisch links situierte Betty möchte dann aber doch nicht, dass der an Covid-19 erkrankte Premierminister Boris Johnson wirklich Schaden nehmen sollte. „Du willst nur keine Schweinereien“, ätzt darauf Fiorentina, das stets hellwache Über-Ich. „Du willst dann keine Komplikationen. Es reicht dir, die Leute in der Politik nicht zu leiden. Das kommt dir schon politisch vor, wenn du jemanden ablehnen kannst. Aber ändern willst du nichts. Das ist dir wahrscheinlich zu schmutzig.“ (34)
Dieses Splitten der Perspektive erstickt jedes Selbstmitleid im Keim, vielmehr ist Selbstreflexion angesagt, wie immer beim Lesen von Marlene Streeruwitz. Hin und wieder kann man auch laut lachen.
Gegen Ende verdichten sich Bettys Einsamkeit, die Jammerlaute des sadomasochistischen Paares in der Nachbarwohnung, der Kanzler Kurz und seine katholisch-monarchistische Verkündigungskultur, die Wut über „missverständlich formulierte“ Kontaktverbote und missverstandene Liebesbeziehungen, über die Politik von Donald Trump, den Serienmörder Joseph De Angelo und das Unwort „lockerroom talk“ immer mehr zum Bild einer Welt, in der „Formeln der Gewalt“ (201) das öffentliche wie private Leben regieren.
Da die Heldin die Weltsituation nicht ändern kann, ändert sie kurzerhand ihr Leben und bricht, sobald es die Pandemie-Gesetze erlauben, nach Norditalien auf, in die Po-Ebene, die Landschaft aus Marlene Streeruwitz‘ vorletztem Roman Yseut (2016), dessen Heldin dort auf den Spuren von Lord Byron und Michelangelo Antonioni mitten in eine Mafia-Geschichte hineintappte. Der Gewalt wird Betty Andover nicht entkommen, trotzdem würde man sie auf ihrer Flucht ganz gerne begleiten: „Jetzt einmal muss ich weg. Einfach weg.“ (207).