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Silberfische und
Urinsekten

Mario Rotter

// Rezension von Christine Schranz

Zum Verständnis von Silberfische und Urinsekten, einer Textauswahl aus dem Nachlass Mario Rotters, ist es unerlässlich, zuallererst die Person des Autors selbst kurz zu skizzieren. Nach seinem Studium der Mathematik und Philosophie in Wien war er Mitinitiator der Künstlergruppe „PKW“ (Politik, Kunst, Wissenschaft) und Regieassistent in Hamburg. Er arbeitete im Bereich der bildenden Kunst und verfaßte literarische sowie multimediale Werke. Gefragt, warum er schreibe, antwortete Rotter 1986: „Ich schreibe, weil ich sonst mit mir nichts anzufangen weiß, ich könnte trinken, aber man kann nicht den ganzen Tag trinken, und ich werde langsam krank davon.“

In Rotters Werk eintauchen heißt nicht etwa, einen linearen Text mit eindeutigem Inhalt von Seite eins bis x zu rezipieren. Vielmehr treibt der Autor ein Verwirrspiel mit Sätzen – kurz, fragmentarisch, auf den ersten Blick fast zusammenhanglos, schreibt alles klein und mischt Text mit Satzzeichen und Effekten (& statt und, durchgestrichene Textstellen, im Kapitel „Extra Bonus Tracks“ auch visuelle Texte in Form gemalter Buchstaben). Bereits der Untertitel des Buches – Bonus Tracks, Lyrik, vermischte Prosa – verrät, dass wir es mit einer vielfältigen Mischung an Genres zu tun haben. Die Texte sind nicht für den Leser geschrieben und waren wohl auch nie für eine breite Leserschaft gedacht. Wer sich auf Rotters Bonus Tracks einlässt – was auch nicht jedem Leser gelingen mag – wird nicht vom Inhalt fasziniert und mitgerissen, sondern von der Sprache selbst. Jeder Absatz ist Dynamik, ruhelose Bewegung, doch nicht etwa nach einem erkennbaren Muster, sondern aufwühlend, schockierend, stets am Rande eines Abgrundes gleiten die Augen des Lesers skeptisch über die Zeilen, ohne sich des Gefühls erwehren zu können, dass es nur ein einziges mögliches Ende geben könne, nämlich das tatsächliche – den Tod des Autors, auf den er sich schreibend vorzubereiten scheint: „Sein ganzes Leben lang kämpft ein Mann gegen den Tod, und dann verliert er den Kampf – und wußte doch immer, dass er ihn verlieren würde.“ (S. 111)

Rotters Schreiben ist Flucht – Flucht vor einem Literaturbetrieb, mit dem er sich nicht identifizieren konnte, dem er sich immer wieder näherte, um ihn sogleich wieder entschieden abzulehnen – Flucht in eine dadaistische Welt von Pessimismus und Ironie, Lagebericht und Dystopie. Mit skurrilen Ausdrücken wird schöngeistige Sprache demaskiert und verspottet; nichts ist eindeutig. Sowohl im Kapitel „Bonus Tracks“ wie in „Vermischte Prosa“ finden wir uns mit einer ständigen Gratwanderung konfrontiert – zwischen Sinn und bewusster Sinnentleerung, Warnung und Relativismus.

Nicht zu überlesen sind hingegen Gesellschafts- und Literaturkritik, die sich als roter Faden in verschiedensten Formen durch das gesamte Buch ziehen: „Kafka und Mozart sind nicht Vorbilder, sondern abschreckende Beispiele, und die Worte der Dichter sind Lügen. Glauben, Satz, und Schwärze, der Buchstabe wäre Reinheit. Irren. Vorlage zum Druck, Druck, dreckige Fetzen, abgegriffen, mit Rändern von Weingläsern, Brandspuren vergessener Zigaretten.“ (S. 101)

Im Kapitel „Lyrik“ finden sich Gedichte zu den unterschiedlichsten Themen – einige davon sind „Für C.“ geschrieben – dabei handelt es sich um die positivsten Texte des Bandes, in denen mitunter Freude, Zufriedenheit und Lust ausgedrückt werden. Dann wieder treffen wir auch in der lyrischen Form auf Gesellschaftskritik, auf Gedichte, die in wenigen Worten tiefste Unzufriedenheit ausdrücken:

„Gestaltung: Wohnsilos / Ausstattung: Einkaufsstraßen / Neuer Trend: Gastronomie / Bestimmung: Zielgruppe / Haben: Orientierung / Suchen: Stellung / Gehen: Einkaufen / Saufen: das Ende“ (S. 152)

Auch visuelle Lyrik findet sich in Silberfische und Urinsekten. Dabei handelt es sich um Texte in Rautenform und anderen, immer symmetrischen Figuren. Zentrales Element in Rotters visueller Lyrik sind Ziellosigkeit, aufgeworfene und unbeantwortete Fragen: „[…] / for dieaway I say goodbye to God / or what should I say at the end I will I / beg as ending do I want to end thus end / […]“ (S. 214)

Das Kapitel „Extra Bonus Tracks“ enthält Fragmente im Tagebuchstil, die Verzweiflung und Orientierungslosigkeit widerspiegeln: „Mühsam nur sehr mühsam kriege ich nur mehr Luft. Angst verspüre ich nicht. Im Gegenteil. Die Vorstellung ihr hilflos ausgeliefert zu sein verbunden mit dem dauerndem Luftmangel läßt in mir ein Gefühl der inneren Zufriedenheit und Schwerelosigkeit aufkommen.“ (S. 250, visueller Text).

Mario Rotter gehörte zu einer Generation österreichischer Schriftsteller, deren Texte sich keinem Genre zuordnen lassen. Am Schnittpunkt von Lyrik, Performance und Dramatik wird eine aggressiv-intuitive Spontaneität erreicht, die nur zwei Möglichkeiten der Rezeption zulässt: Entweder, der Leser lässt sich auf die Abgründe des Denkens ein und folgt Rotter in düstere Dystopien und schonungslose Demaskierung gegenwärtiger Einrichtungen und Denkweisen, oder er scheitert bereits an der ersten Seite.

Silberfische und Urinsekten.
Nachlaß II: Bonus Tracks, Lyrik, vermischte Prosa (1975-1995).
Herausgegeben von Ralph Klever.
Klagenfurt, Wien: Ritter Verlag, 2005.
261 Seiten, broschiert.
ISBN 3-85415-377-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 25.04.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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