Katharina Winkler hat 2016 mit ihrem mehrfach ausgezeichneten Roman Blauschmuck im Suhrkamp Verlag debütiert. Er beruht auf einer wahren Lebensgeschichte, den Gewalterfahrungen der türkischen Kurdin Filiz. Die junge Frau träumt von Liebe, Freiheit und Autonomie. Doch mit ihrer Hochzeit landet sie in einem komplexen Szenario brutaler Unterdrückung sowie scheinbar auswegloser wirtschaftlicher, physischer und psychischer Abhängigkeit von ihrem Ehemann. Gewalterfahrungen stehen auch im Zentrum von Winklers zweitem Roman Siebenmeilenherz, der interessanterweise nicht wieder bei Suhrkamp, sondern im Verlag Matthes & Seitz erschienen ist – über die Gründe lässt sich nur spekulieren.
Diesmal ist es nicht eine Lebensgeschichte, die Grundlage des Romans wurde, sondern Winkler hat, wie sie in Interviews erzählte, zahlreiche Gespräche mit Frauen geführt, die als Kind Opfer sexueller Gewalt geworden waren, und das Material schließlich zum exemplarischen Lebens- und Leidensweg ihrer Ich-Erzählerin verdichtet. Diese ist das einzige Kind der Familie, am Beginn des Buchs fünf Jahre alt, und wir begleiten sie bis ins fortgeschrittene Erwachsenenalter. Wir werden Zeug:innen ihrer wiederholten Traumatisierungen, die das Mädchen ihr* Leben lang begleiten werden.
Schon im Klappentext wird die Gewalt benannt, denn sie wird von ihrem Vater „missbraucht“ und auch im Buch selbst wird das Wort „Missbrauch“ erwähnt. Man wünschte sich, dass dieser Begriff endlich aus den Judikaturen und dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwindet. Nicht, weil man Tatsachen ignorieren und Tabus verstärken möchte, sondern weil er falsch ist. Denkt man ihn nämlich konsequent weiter, dann müsste es auch den sexuellen „Gebrauch“ von Kindern geben, und den gibt es nicht. Ein Kind kann aus entwicklungspsychologischer Sicht einer sexuellen Handlung niemals wissentlich und daher nicht einvernehmlich zustimmen, nicht zuletzt deshalb, weil es die Sexualität eines Erwachsenen nicht kennt. Es handelt sich stets um sexuelle Übergriffe zur Befriedigung eigener Bedürfnisse auf Kosten eines Kindes, begangen von Erwachsenen oder älteren Jugendlichen, oft unter Ausnützung eines Autoritäts- und Machtverhältnisses, oft im Kreis des sozialen Naheraums der Familie, diesem vermeintlich sicheren Hort des Vertrauens und der Geborgenheit, oder im sozialen Umfeld der Schule, des Sportvereins, der Kirche. Richtig wäre, von sexueller oder sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu sprechen, aus der es für diese kaum ein Entrinnen gibt, einer Gewalt, die sich nicht selten mit besonderer Zuwendung, Verständnis, Förderung und Liebe des Aggressors tarnt und die eine unbelastete sexuelle Entwicklung des Kindes verunmöglicht.
Gleich zu Beginn des Romans erfahren wir aus der Innenperspektive des Mädchens von den Lebensumständen ihrer dreiköpfigen Familie auf dem Land. Die Mutter bleibt eine blasse Nebenfigur, die im Buch lange nicht auftritt, sodass man zunächst annimmt, es handle sich um einen alleinerziehenden Vater. Sie wird als kalt und lieblos erlebt, eine schweigende Frau, die nie für das Kind da zu sein scheint und es nicht beschützt. Die Fünfjährige vergöttert hingegen den Vater und weiß bestimmt, „[m]ein Papa ist der beste Papa der Welt“ (S. 9). Sie erzählt vom Leben im Dorf, vom Schaukeln, von Wanderungen mit dem Vater, der ihr liebevoll zugetan scheint, und von Papas allmächtigem Wissen.
Von Anfang an schleichen sich schrille Zwischentöne ein, wenn von „Einhörnern“ die Rede ist, von der „Zauberritze“ des Kindes, mit der man spielen müsse, „sagt Papa. Sie muss geküsst und gestreichelt werden“ (S. 10), damit das Mädchen ruhig schlafen könne, oder von Mäuschenspielen und der sexuellen Erregung des Vaters, bis schließlich der weiße, klebrige „Wundersaft“ fließt. Schon auf den ersten Seiten artikuliert das Kind deutlich, dass sie das nicht will, doch er zwingt sie mit sanfter Aggression. Der Vater, der die emotionale Abhängigkeit des Kindes zu manipulieren weiß, wird sich ab nun regelmäßig an seiner Tochter vergehen, beginnt irgendwann auch, sie zu penetrieren, und lässt sich oral von ihr befriedigen. Er macht sie zu seiner Komplizin und schärft ihr ein, dass niemand davon erfahren dürfe, vor allem nicht ihre Mutter, die diese Information nicht überleben würde. Das Mädchen steckt tief in einem Zwiespalt, weil sie ahnt, dass das ambivalente Handeln des Vaters falsch ist. Dennoch ist sie folgsam und wird das Geheimnis bewahren, es auch nicht der Lehrerin erzählen, die mit ihr reden will, als ihre Schulleistungen nachlassen. Auch sonst wird ihr Verhalten auffällig, was kaum jemand zu bemerken scheint. Sie ist zunehmend verstört, verweigert den Schulbesuch und sinkt in depressive Gestimmtheit. Das Mädchen möchte tot sein, denn „[t]ot sein heißt unangetastet sein.“ (S. 69) Sie hat Angst, schwanger zu werden, und beginnt, sich selbstzerstörerisch zu verhalten, indem sie sich ritzt.
Die sexuelle Gewalt des Vaters endet für das Mädchen mit dem Erreichen der Pubertät, doch in Wirklichkeit endet sie nie, wie Winkler im zweiten Teil ihres Romans zeigt. Die junge Frau zieht als Studentin in eine andere Stadt, wo alles neu ist, und will ihr eigenes Leben beginnen. Doch wie führt man ein eigenständiges Leben, wenn man bloß die Unzuverlässigkeit der Welt kennt und kein selbstbestimmtes Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten erlernt hat? Ihr Körper lässt sich nicht erneuern und die widrigen Erfahrungen lassen sich nicht abschütteln, beeinträchtigen ihr Studium, ihr Liebes- und Beziehungsvermögen. Denn sie haben sich tief in ihre Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit eingeätzt. Sie fühlt sich von sich selbst entfremdet, sammelt wie besessen Handynummern und Bekanntschaften, wechselt häufig die Partner. Als sie einen Mann kennenlernt, mit dem sie sich ein gemeinsames Leben vorstellen kann, und von ihm schwanger wird, lässt sie das Kind abtreiben, aus Angst, einer Tochter könnte dasselbe geschehen wie ihr. Erst allmählich entwickelt sie andere Lebensperspektiven, beginnt eine Therapie und lernt, das Verhalten des Vaters als sexuelle Gewalt und ihn als Täter zu benennen. Offensiv will sie das Schweigen brechen und fordert seine Entschuldigung, was zu dramatischen Entwicklungen führt, die hier nicht enthüllt werden sollen.
Was an diesem aufwühlenden Buch besonders imponiert, ist die von Winkler kreierte kunstvolle Kindersprache, mit der das Mädchen sich ihre Welt erklärt. Wobei wir immer mehr wissen als das Kind mit seinen eigenen Vorstellungs- und Wahrnehmungsräumen, weil wir durch unser Wissen und unsere Erfahrungen die Leerstellen füllen. Das Mädchen hat noch keine Worte, um die sexuelle Gewalt zu benennen. Sie spricht und denkt in einfachen, kurzen Sätzen, die im Roman versartig gebrochen werden und damit der Form nach Gedichten ähneln. Doch sie kennt Liedtexte, (Auszähl-)Reime, Gedichte und Gebete, Märchen und Kinderbücher. Damit und mit ihrem bis weit ins Volksschulalter persistierenden magischen Denken erschafft sie sich eine ihrem Leben nahe Fantasie- und Traumwelt, die ihr hilft, die Gewalt zu umschreiben und damit in Worte zu fassen, sie sich zu verkindlichen und so auf ihre Weise zu erklären. Manchmal wendet sich ihre Welt der magischen Logik auch gegen sie. Denn alles, Schönes und Entsetzliches, was sie sich wünsche, könne Wirklichkeit werden. Und so, wie sie Astrid Lindgrens literarische Figur Karlsson in ihr Zimmer fantasieren und damit real machen könne, habe sie vielleicht auch ihren Vater herbeigewünscht und sei deshalb selbst schuld an der Gewalt.
Eindrücklich ist auch, wie Winkler Motive und (Farb-)Codes einsetzt, sie im Lauf des Romans immer wieder aufgreift. Damit werden die Nachwirkungen sexueller Gewalt, werden Sehnsüchte, Ängste, Scham und Tabus noch einmal auf andere Weise unterstrichen. Erwähnenswert wäre etwa Ludwig Bechsteins Märchen Der kleine Däumling, der zwar klein, aber voll furchtloser Gewitztheit in den Besitz von Siebenmeilenstiefeln mit übernatürlichen Fähigkeiten gelangt und damit in die Welt hinausläuft, um sein Glück zu machen. Es ist eine Geschichte vom Weggehen, die Winkler in kurzen Stückchen in ihren Roman einwebt. Solche Siebenmeilenstiefel wünscht sich das Mädchen und später die junge Frau, auch Siebenmeilenhände, um Berge zu versetzen, einen Siebenmeilenkopf und ein Siebenmeilenherz, damit sie der Gewalt und deren Nachwehen entfliehen kann. Zitiert werden u. a. auch Passagen aus Mira Lobes Das kleine Ich bin ich, ein Text über Selbstfindung und Ich-Bewusstsein. Dass am Schluss das Erlkönig-Motiv auftaucht, ist eine weitere Volte in diesem anrührenden, grandios erzählten Buch, das zu Herzen geht.
*Anmerkung: Da das Opfer weiblichen Geschlechts ist, hat die Rezensentin entschieden, durchgehend das weibliche Pronomen zu verwenden, auch wenn bei Wendungen wie „das Kind“ und „das Mädchen“ das sächliche Pronomen korrekt wäre.
Monika Vasik, geb. 1960, Studium der Medizin an der Universität Wien, Promotion 1986; Lyrikerin, Rezensentin, Ärztin; Literaturpreise u. a. Lise-Meitner-Preis 2003, Publikumspreis beim Feldkircher Lyrikpreis 2020; Mitbegründerin und bis 2022 Mitverantwortliche der Poesiegalerie; mehrere Lyrikbände, zuletzt: hochgestimmt (Elif Verlag, 2019) und Knochenblüten (Elif Verlag, 2022). www.monikavasik.com