#Sachbuch

Sieben Wegbereiter

Marcel Reich-Ranicki

// Rezension von Walter Fanta

Heiligsprechungen und eine Hinrichtung –
Zum Kapitel über Robert Musil, S. 155-202.

In seinem neuen Buch Sieben Wegbereiter stürzt sich der unentbehrliche literarische Mittler unserer Tage in eine Reihe von Heiligsprechungsverfahren; wie es sich gut-päpstlich gehört, müssen die Anwärter tot sein. Arthur Schnitzler, Thomas Mann, Alfred Döblin, Franz Kafka, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht ereilt posthum und ex kathedra der Wahrspruch, trotz nachweislicher menschlicher Schwächen literarisch Großes geleistet zu haben.

Die sechs Wegbereiter des großen Reich-Ranicki wurden von diesem bereits in diversen Aufsätzen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1977-1995 in den Olymp versetzt, ihre Apotheose ist sozusagen eine aufgewärmte. Das Buchkapitel über Robert Musil hingegen ist erst 2001/2002 entstanden und nur in Kernpassagen im „Spiegel“ und anderen deutschen Medien im Sommer vorabgedruckt worden. Der Musil-Essay unterscheidet sich auch inhaltlich grundlegend von den älteren Artikeln. Die anderen Dichter in ihren Gräbern und ihre Fans dürfen sich freuen, dass der Oberzensor zwar beileibe nicht alles nachgesehen und durchgehen lassen hat, doch dann jedem, wenngleich mit verschieden großem Vergnügen, die Absolution erteilt. Was Reich-Ranicki über Musil schreibt, kommt einer persönlichen und literarischen Hinrichtung gleich. Als Person ein absoluter Fanatiker, sei dieser Robert Musil nicht imstande gewesen, seine Obsessivität wenigstens eingermaßen unter Kontrolle zu halten und seine Schreibmanie zu beherrschen. Musils Unfähigkeit, die Möglichkeiten und die Grenzen seines Talents zu erkennen und daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen, die Unfähigkeit also, das, was er gewollt und geplant hat, auch zu verwirklichen sei Schuld daran, dass dieser völlig zu Unrecht in Ansehen stehende Schriftsteller ein ganz und gar gescheiterter Mann war. In Reich-Ranickis Verurteilung mengen sich moralisierende Töne, er stößt sich nicht nur am Werk Musils, sondern an der Person, am Charakter: Der sich am „Mann ohne Eigenschaften“ vergeblich Mühende sei vom manischen Sendungsbewusstsein geblendet aus eigener Dumm- und Dünkelhaftigkeit zu einem unglücklichen, weltfremden Individuum geworden; der Fall Musil offenbare den Zusammenbruch eines einst großen Erzählers, der seinem Talent nicht gewachsen war.

Die Werke des jungen Musil finden noch Gnade vor den Augen des großen Richters, in seiner Originalität zwar überschätzt, gehören die „Verwirrungen des Zöglings Törless“ in den Kanon der deutschsprachigen Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts, meint der Kanonhüter. Beim „Mann ohne Eigenschaften“ hört aber alles Wohlwollen auf, diese Wüste mit ein paar schönen Oasen sei voll mit sprachlichen Entgleisungen und Stilblüten. Die seitenlange Tirade Reich-Ranickis gegen den großen Roman Musils nimmt immer wieder Anstoß an der Unanschaulichkeit der Sprache Musils, für deren schmiegsame Metaphorik, satirische Düpierungen konventioneller Denk- und Sprechhaltungen und brillante Ironie er überhaupt keinen Sinn hat. Die berühmte ‚Parallelaktion‘, die das Handlungsgerüst des ersten Romanbands liefert, bezeichnet Reich-Ranicki als skurriles Gedankenspiel mit einem Hauch von Albernheit. Die ‚letzte Liebesgeschichte‘ des Geschwisterpaars Ulrich und Agathe, die im zweiten Band des „Mann ohne Eigenschaften“ erzählt wird, hält der Kritikerpapst für unmodern, unoriginell und missraten, weil der Autor über die hierzu erforderliche Sprache nicht verfügt. Die in den Roman eingebauten Essays tut er ab als Abschweifungen, die das Buch im Endergebnis zugrunde gerichtet haben. Er kann der Breite der satirischen und ironischen Rekonstruktion der Welt vor dem Zusammenbruch von 1914, die Musil in dem Roman unternimmt, nichts abgewinnen und darin nur eine Form literarischer Geschwätzigkeit erkennen. Was immer dem Autor einfiel, musste, ob es nun leidlich interessant oder auch nur erwähnenswert schien, ob es dem Ganzen nützen konnte oder nur notwendig war, im Roman untergebracht werden. Die in den Roman synthetisch integrierten Zitatkollagen zur Kennzeichnung von Denkhaltungen und Ideologien lässt Reich-Ranicki nicht gelten, schamlose Anleihen seien das. Der Kritiker findet sich in der Komposition des Romans einfach nicht zurecht, er sieht keine Struktur, keinen Rahmen und keinen roten Faden. Schlimmer noch: Eine vernünftige, eine sinnvolle Reihenfolge der einzelnen Bestandteile ist nicht erkennbar. Der „Mann ohne Eigenschaften“ sei nicht mehr als ein Sammelsurium, ein chaotisches Werk, sei misslungen, eine Prosa ohne Charme und Aura, ohne Poesie, es handle sich um einen extremen und eklatanten Missbrauch der Romanform.

Die Rechtsgrundlage literaturkritischer Gerichte bildet die private Leseerfahrung des Richters. Es ist im literarischen anders als im regulären Gerichtsverfahren erlaubt, ungeniert Fehlurteile zu sprechen, und das ist gut so, weil alles andere auch die Beugung der künstlerischen Freiheit unter fixe Normen bedeuten würde. Die erlaubten ästhetischen Fehlurteile Marcel Reich-Ranickis im Fall Musil sind von Musil-Lesern und Kritikern mittlerweile erkannt und öffentlich aufgezeigt worden. (Zum Beispiel von Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung vom 28.8.2002, von Ina Hartwig in der Franfurter Rundschau vom 19.9.2002 und von Oliver Pfohlmann in literaturkritik.de.) Den im sachlichen Ton geführten Repliken ist von fachlicher Seite nichts hinzuzufügen. Die Frage bleibt aber offen: Was hat Marcel Reich-Ranicki trotz der Warnungen, die ihm angeblich zugekommen sind, denn eigentlich veranlasst, sein harsches Verdikt auszusprechen? Und: Braucht Musils Werk denn tatsächlich den Mittler; wozu brauchen wir ihn denn, den Ingeborg-Bachmann-Preis-Jurychef a.D., den Alle-unter-den-Tisch-Redner a.D. im Literarischen Quartett, den Solisten und Wegbereiter-Nachgeher?

An der Aufgabe, den „Mann ohne Eigenschaften“, der ein erzählerisches Kompendium des untergegangenen alten Mitteleuropa und zugleich eine Hilfe zur geistigen Bewältigung der modernen Welt liefert, an heutige Leser zu vermitteln, ist Marcel Reich-Ranicki ganz offensichtlich gescheitert. Er hat sich den Ansprüchen, die dieser Roman an Leser und Leserinnen stellt, nicht gewachsen gezeigt. Marcel Reich-Ranicki ist nicht der erste, dem die Lektüre von Musils umfangreichem Roman Schwierigkeiten bereitet, der beim Ritt durch Kakanien abgeworfen wurde – aber er ist der bisher rachsüchtigste. Einen seiner Racheakte führt er aus, indem er vermeintliche Stilblüten zitiert, um Passagen aus der erotischen Handlung des Romans der Lächerlichkeit preis zu geben. Reich-Ranicki durchschaut nicht, dass die Schilderungen vom Umgang des Mannes ohne Eigenschaften Ulrich mit den Frauen Gerda, Rachel, Diotima die konventionelle Liebessprache der damaligen Zeit parodierend im Visier haben. Dies und vieles andere reflektiert Marchel Reich-Ranicki nicht, sondern er schlägt los. Er überspringt die Lesehürden, die im Roman kunstvoll aufgestellt sind, nicht mit kraftvoller Eleganz, wie von einem Großkritiker zu erwarten; er rennt sie nieder. „Der Mann ohne Eigenschaften“ erzählt zugegebenermaßen keine Geschichte, in der sich alles so fein auflöst wie in den Geschichten Thomas Manns. Dass das Erzählen problematisch werden kann und Handlungsverweigerung zur Notwendigkeit, darüber mit den Lesern zu diskutieren, dazu fehlt es dem naiven (Nach)Erzähler Marcel Reich-Ranicki an ästhetischem und intellektuellem Bewusstsein. Was Reich-Ranicki an Musil beanstandet, zum Teil auch zu Recht beanstandet, betrifft ernste Fragen der Literatur und der literarischen Wirklichkeitsverarbeitung, die es wert wären, an ein Publikum vermittelt zu werden. Reich-Ranicki verweigert sich dieser Aufgabe jedoch und geht stattdessen auf Autor und Text los.

Vom Werk der anderen sechs sogenannten Wegbereiter ‚vermittelt‘ Reich-Ranicki gelegentlich auch etwas. Ich habe zum Beispiel bei der Lektüre Interesse verspürt, Thomas Manns Roman ‚Der Erwählte‘ endlich zu lesen, und Lust, in den Liebesgedichten Brechts wieder einmal zu blättern. Doch bleiben intensivere Einlassungen mit den literarischen Texten der Wegbereiter im Hintergrund, als hätten nicht die Werke den Weg bereitet; Reich-Ranickis Kritik steht auffallend weit vom Text; in den Vordergrund drängt sich die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit der Autoren, wie sie aus Tagebüchern und Briefen hervor scheint. Das ästhetische verwandelt sich ins persönliche Gericht. Thomas Manns latente Homoerotik, Kafkas sexuelle Störung und Brechts Vielweiberei werden aufgewärmt und wieder breit getreten. Glaubt Reich-Ranicki, die Vermittlung literarischer Qualität funktioniere nur so? Hält er die Befriedigung voyeuristischer Leserbedürnisse für Literaturvermittlung? Es wird schon so sein: das Publikum ist dankbar – wer sieht sich nicht lieber eine literarische Hinrichtung im TV an statt sich den Mühen der Lektüre unvergnüglicher Prosa zu unterziehen? Jedenfalls leistet Reich-Ranickis gesamte Kritikertätigkeit, ob an neuen oder alten Autoren, der Verdinglichung der Poesie Vorschub, der Bestimmung des ästhetischen Werts als Unterhaltungs- und Warenwert. Er benimmt sich im Grunde wie ein Analyst an der Börse, wenn er stets auf ‚Rang‘ aus ist. Auch der ‚Rang‘ der Wegbereiter wird von ihm neu taxiert. Der Autorname ist eine ‚Marke‘ im literarischen Geschäft und Taxiermaschinen wie Reich-Ranicki sind in einem tieferen Sinn daran schuld, dass zwar jeder den Namen Peter Hanke kennt, aber kaum jemand mehr seine Bücher liest. Alle sinds zufrieden, Verlage, Buchhändler, Medien und Publikum. Anders als in den Kategorien des Markts zu denken fällt schwer. Doch kann auch was alle glauben falsch sein. Die Instanz Literatur entzieht sich der Bewertung der Welt; sie ist es, die die Welt bewertet. Literarische Rankings sind Unsinn.

Reich-Ranickis Buchkapitel über Robert Musil ist ein fehlgegangener Klick der Preispickerlmaschine an einem unverkäuflichen Einrichtungsgegenstand im Supermarkt, an einem Werk, das sich dem Markt tatsächlich entzieht, und ein Stellvertreterkrieg gegen die sogenannte Musil-Industrie. Die Musil-Experten, behauptet Reich-Ranicki, lieben es, über Musil kniend zu sprechen. Da gäbe es eine Musil-Forschung, die hartnäckig dem Grundsatz huldigt: ‚Du sollst keine anderen Götter haben neben mir‘. Reich-Ranicki kolportiert als Beweis eine Tagung in Saarbrücken im Juni 2001, an der die Musil-Experten nur über eins gestritten hätten: ‚Ist Musil der größte Autor der Welt, der größte des deutschen Sprachraums – oder nur der größte Österreichs?‘ (Sie hätten sich also unbefugt mit Ranking-Fragen befasst, was nur IHM zusteht.) Außerdem hätte ein amerikanischer Wissenschaftler auf gewisse Fragwürdigkeiten in Musils Werk aufmerksam gemacht und dafür nur betretenes Schweigen geerntet. Die Tagung in Saarbrücken hat tatsächlich statt gefunden, als aktiver Teilnehmer an ihr weiß ich aber zu Protokoll zu geben, dass das von Reich-Ranicki Kolportierte sich nicht zutrug, er also in seinem Kampf gegen Windmühlen Gerüchte bedient. Es ist absurd, die Musil-Forschung als sich hermetisch jedem kritischen Urteil verschließende Clique hinzustellen, schon deswegen, weil im Heer der Musil-Interpreten der letzten vierzig Jahre, unter denen sich auch viele hoch anerkannte Germanisten befinden, die sich in ihrer Tätigkeit beileibe nicht auf Musil spezialisiert haben, natürlich auch solche sind, deren Analysen von Musil-Texten sehr kritisch ausgefallen sind. Sie sind beim besten Willen weder wissenschaftsmethodologisch noch institutionell je unter einen Hut zu bringen. Reich-Ranickis Amok resultiert nicht nur daraus, dass er dem „Mann ohne Eigenschaften“ nicht gewachsen ist, er sah sich auch durch die Sekundärliteratur schlichtweg überfordert. Mitleid ist nicht am Platz, die Reaktion, wenn auch überzogen, ist aber verständlich: Denn zur Interpretation des „Mann ohne Eigenschaften“ erscheinen Jahr für Jahr dicke akademische Abhandlungen, die zu erfassen ein Bibliograf kaum nachkommt, geschweige denn ein vielbeschäftigter Kritiker. „Der Mann ohne Eigenschaften“ ist ein Bassin für Schwimmkurse angehender Schriftgelehrter an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten. Das Strickmuster der fussnotenreichen Traktate bleibt sich mit wenigen Ausnahmen gleich: ein Philosoph, ein Theoretiker, eine Theorie, ein Programm, eine Methode, eine Methodologie, eine neue Mode wird an den Roman herangetragen und dessen Text wird zum Zweck der Identifizierung mit der jeweiligen Theorie oder Methode bis zur Unkenntlichkeit ausgeweidet. Von Marcel Reich-Ranicki zwar ganz falsch charakterisiert, ist die Musil-Forschung der letzten Jahre tatsächlich ein Monster. Was ihr besonders vorzuwerfen ist: zur Beantwortung der Fragen, die sich ’normalen Lesern‘ bei der Lektüre gestellt haben mögen, trägt sie schon seit längerem nichts mehr Rechtes bei.

Einen Vermittlungsvorschlag hat Marcel Reich-Ranicki allerdings bereits 1980 unterbreitet; dass er keine Zustimmung fand, scheint ihn noch heute zu erbittern: Er trat damals für eine gekürzte Ausgabe des „Mann ohne Eigenschaften“ ein – das Volk soll sozusagen nur die ‚Oasen‘ betreten.

Wahrscheinlich aus dem Jahr 1931 stammt ein Zettel im Nachlass Robert Musils, auf dem dieser sich selber in verzweifelter Einsamkeit oder seinen Mäzenen in erpresserischer Absicht kund tun will, wie es mit der Arbeit am Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ steht: „Ich kann nicht weiter!“ ist dem Lamento als Überschrift voran gestellt; dann folgt ein Kassasturz, eine kaum verhohlene Suiziddrohung und ein Rückblick, wie es dazu hatte kommen können und wer an der Misere Schuld trage. „Gewisse Mittlerschichten, die anscheinend unentbehrlich sind, haben sich immer von mir ferngehalten.“ Die Mittler hielten sich damals weiter fern, Musil starb im April 1942 arm und unbekannt als Asylant in Genf, der Roman blieb unvollendet. Heute aber ist er längst in den Kanon der Weltliteratur eingegangen. Zu Unrecht, meint der Kritiker Marcel Reich Ranicki, der entbehrliche Vermittler.

Marcel Reich-Ranicki Sieben Wegbereiter
Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhundert
Stuttgart, München: dtv, 2002.
300 S.; brosch.
ISBN 3-421-05514-9.

 

Rezension vom 13.11.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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