#Prosa

Seraphica.Montefal

Heimito von Doderer

// Rezension von Stefan Winterstein

Weil ein Zitat von ihm auf einer literarischen Neuerscheinung zurzeit tunlichst nicht fehlen darf, wie banal es auch immer sein mag, sagt Daniel Kehlmann im Klappentext des jüngst erschienenen Nachlassbändchens: „Doderer ist ein ganz erstaunlicher Schriftsteller. Sehr berühmt und doch immer noch zu entdecken.“ Ein anderes Kehlmann-Diktum: „Schriftsteller sind doch fast immer Leute, deren wichtigste Erlebnisse am Schreibtisch stattfinden“ (so kürzlich in einem Zeitungsinterview), kann für den erstaunlichen Herrn Doderer freilich nur beschränkt gültig sein.

Als 1953 „Das letzte Abenteuer“ bei Reclam erschien, fügte Heimito von Doderer seinem bereits 17 Jahre zuvor niedergeschriebenen „Ritter-Roman“ ein autobiographisches Nachwort bei. Darin listete er die verschiedenen Stationen seines jugendlichen Lebens auf: Mit 19 Dragoner-Offizier, mit 23 Holzknecht in Sibirien, mit 24 Drucker, mit 25 durch die kirgisische Steppe zu Fuß nach Hause unterwegs, um noch im selben Jahr Student zu werden. „Mit 29“, so Doderer über sich selbst, „lag auch das hinter ihm, und auch das Erscheinen seiner ersten Bücher: Kühlung des Ehrgeizes, Rückansicht des literarischen Lebens.“

Die wichtigsten Erlebnisse dieses Autors dürften keineswegs am Schreibtisch stattgefunden haben (der Entschluss zum Schreiben wurde denn auch in der Kriegsgefangenschaft gefasst), und die wenigsten übrigens freiwillig. Der etwa gleichaltrige Herr, den er 1922, also mit Mitte zwanzig, in seiner Rittergeschichte „Montefal“ auf den Weg schickte, ist dennoch ein Abenteurer: freilich ein nicht unbeschwerter, ist er doch zerrissen zwischen Freiheitssehnsucht und Liebesverlangen.
Bei der kaum 15 Druckseiten langen Erzählung handelt es sich, wie schnell zu erkennen ist, um einen Vorläufertext zum „Letzten Abenteuer“ – den man aber mit dieser Feststellung nicht, wie in der bisherigen Forschung geschehen, als erledigt betrachten darf. Zu gewichtig sind die Unterschiede. Die Spur zur biographischen Aufschlüsselung, die Doderer selbst für den Roman gelegt hat, bietet sich auch für „Montefal“ an. So lautet ein Befund Martin Brinkmanns im Nachwort zur nunmehrigen Edition: „In ‚Montefal‘ verarbeitete Doderer sichtlich die nervenaufreibenden Erfahrungen, die er in seiner seit Ende Juli 1921 bestehenden Beziehung zu Gusti Hasterlik gemacht hatte.“ Der festen Liebesbindung fühlt sich der Ritter Ruy de Fanez nicht gewachsen, aber auch das freie Umherziehen wird ihm fragwürdig. 1936, im „Letzten Abenteuer“, wird an die Stelle des Zweifels der bittere Abschied getreten sein: Der resignativen Weltsicht des einsamen Helden, der die Bindung dort regelrecht flieht, entspricht die „allmähliche Austrocknung des Sumpfes der Illusionen, die Mehrung zugleich des Schatzes an Desillusionen“, zu der sich der Dichter in jenem Nachwort bekannte.
Gerade im Vergleich mit dem späteren Roman birgt die bei aller Depression flott erzählte „Montefal“-Geschichte einigen Erkenntnismehrwert über die frühe Entwicklung dieses Autors, und Brinkmann gelingt es, dieselbe eindrücklich und plausibel zu skizzieren. Es könnte gar sein, dass Doderer in einem Erzähltext, der in der höfischen Welt des Mittelalters angesiedelt ist, tiefere Einblicke zulässt, als in den mit vordergründigen Alter Egos bespielten Großstadtromanen des Spätwerks.

Eine Lektüre vor biographischer Folie drängt sich auch für die erste der beiden hier versammelten Editionen auf, „Seraphica“, eine bald nach „Montefal“ verfasste Lebensgeschichte des heiligen Franz von Assisi. Wie die viersätzige Form verrät, ist der Text im Zusammenhang mit dem Divertimenti-Projekt entstanden. Franciscus diente Doderer als Identifikationsfigur in Krisenzeiten: Unter Selbstzweifeln leidend, von Schuldgefühlen gebeutelt, von sexuellen Eskapaden und innerer Unruhe beherrscht, sehnte sich der junge Schriftsteller nach einer Läuterung seiner „Dreckseele“. Die Lebensgeschichte des Umbriers, die zunächst einige äußere Parallelen zu ihm selbst aufwies, versprach ihm Halt – auch noch eineinhalb Jahrzehnte später, als er seiner NS-Verwirrung durch die Konversion zum Katholizismus ein symbolisches Ende setzte und sich auf den Namen „Franciscus Seraphicus“ taufen ließ.

Die Suche nach Formgebung für das Leben schlägt sich in „Seraphica“ offenbar auch stilistisch nieder: Sprachlich fällt diese bisweilen etwas manierierte Prosa aus dem Gesamtwerk heraus (was zu ihrem Ausschluss aus früheren Sammelbänden geführt hat), Selbstdisziplinierung und künstlerische Leichtigkeit scheinen noch nicht zusammenzugehen. Dass die Beschäftigung mit Franz von Assisi in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Schriftstellers als Person „kaum hoch genug eingeschätzt“ werden kann, wie es im Nachwort heißt, ist aber mit Sicherheit richtig, auch wenn Doderer über jeden Verdacht, je ein heiliges Leben geführt zu haben, erhaben sein dürfte.

Dass Doderer immer noch zu entdecken ist, braucht im Übrigen hier nicht festgestellt zu werden. Ob gerade der eher schwer zugängliche Franciscus-Text und die weit aus unserer Lebenswelt führende Rittergeschichte zur Entdeckung im Sinne der Breitenwirksamkeit beitragen werden können, ist fraglich. Zumindest für das bessere Verständnis seitens jener, die Doderer schon entdeckt haben, kann das Buch aber definitiv einiges leisten, und es ist fabelhaft, dass zwei Editionslücken hiermit so repräsentativ geschlossen worden sind. Gestaltung und Redaktion des Bandes lassen nichts zu wünschen übrig. Anders gesagt: Man sollte diese Neuerscheinung nicht an dem genannten Klappentext-Zitat messen.

Heimito von Doderer Seraphica.Montefal
Erzählungen.
Hrsg.: Martin Brinkmann, Gerald Sommer.
Mit einem Nachwort von Martin Brinkmann.
München: C. H. Beck, 2009.
111 S.; geb.
ISBN 9783406584664.

Rezension vom 31.03.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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