#Sachbuch

Selbstentwürfe

Marcel Krings

// Rezension von Leopold Federmair

Zwangsjacke Identität

Marcel Krings‘ Studie zur „egologischen Poetik“ von vier recht verschiedenen, durchwegs aber einflußreichen Autoren – Paul Valéry, Rilke, Celan, Beckett: zwei Lyriker, ein Erzähler, der auch Dramen schrieb, und ein Essayist, der Ausflüge ins Poetische unternahm – umfaßt einen theoretischen und einen werkanalytischen Teil. Sandra Pott meint in ihrer Besprechung (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. September 2005), die Einzelinterpretationen überzeugten durch ihre Genauigkeit, der Konnex zwischen Theorie und Analysen sei aber nicht recht nachvollziehbar. Letzteres mag zutreffen, doch bleibt nachzufragen, ob der Kommentar durch Genauigkeit allein den Werken gerecht zu werden vermag.

Tatsächlich beschränkt sich die hier angewandte Methode weitgehend auf ein Zitieren und Durchkauen von Stellen der Primärliteratur, gepaart mit einem Anhäufen von Informationen aus etymologischen, botanischen, mineralogischen, theologischen Wörterbüchern sowie dem Handbuch des Aberglaubens. Dies gilt besonders für das umfangreichste Kapitel, in dem der kürzeste der ins Visier genommenen Texte besprochen wird: Paul Celans Prosatext Gespräch im Gebirg. Zwar ist dem grundsätzlichen Postulat zuzustimmen: „Anstatt auf der einen ‚richtigen‘ Deutung zu insistieren, scheint die Lösung hier allein im Offenhalten der Bedeutungsmöglichkeiten von Dichtung zu bestehen.“ (S. 136) Doch führt der Rückgriff auf die ohnehin nur mit Vorsicht zu genießende Etymologie meist zu Abwegen und manchmal gar nicht mehr zum Text zurück – ja, zuweilen auch in groteske Sackgassen, etwa dort, wo Celan zuerst unter ein christologisches, dann mariologisches Zeichen gestellt wird, bis am Schluß dieser Passage ein dritter Prominenter des Neuen Testaments in den Bund tritt: Johannes der Täufer. Nachdem Krings den Leser mehrere Seiten lang auf diesen Abweg geführt hat, merkt er selbst, wohin es ihn verschlagen hat: „Trotz solchen Horizonts der [christologischen] Hoffnung dämpft der Text allzu frohe Erwartungen und entwickelt im Folgenden seine volle jüdische Perspektive. Denn die Pflanzen weisen darauf hin, dass die mystische Liebeshochzeit kein beglaubigtes [??] Kind, keinen christlichen Erlöser zeugt.“ (S. 186) Nun ja. Wir sind so schlau als wie zuvor, denn wir haben gewußt, daß Celans Dichtung wesentlich im Kontext der jüdischen Kultur steht. Wie wir auch gewußt haben, daß Paul Valéry auf der Suche nach der reinen Geistigkeit und der referenzlosen Wortmagie nach dem Vorbild Mallarmés war, und daß er nicht, wie der antichristliche Nietzsche, gegen die Macht des Logos ankämpfte. „L’essentiel est contre la vie“, zitiert Krings Valérys Monsieur Teste, nachdem er den Autor ausgiebig – aber wozu? – mit Nietzsche, dem beredten Verteidiger „des Lebens“, konfrontiert hat.

Problematisch ist nicht die „Genauigkeit“ solcher Textanalysen, sondern die Abwesenheit von konkreteren Gesichtspunkten, als sie die im theoretischen Teil entwickelte „Egologie“ bietet. Das Offenhalten und Öffnen der Bedeutungen von einzelnen Textstellen kann erst dann wirklich Früchte tragen, wenn Bedeutungsebenen bestimmt werden, auf die sich die Stellen beziehen lassen. Jene Ebenen setzen – gerade bei Celan – eine poetische Pluralität ins Werk, die allerdings nicht grenzenlos oder verschwommen ist und bestimmte Deutungen von Einzelstellen, etwa die christologische, unzweideutig ausschließt (so daß man sich die Mühe sparen kann, ihnen nachzugehen). Den Studien Krings‘ mangelt es an Gesichtspunkten, die Entscheidungen beim Interpretieren erlauben. Entscheidungen zu treffen heißt nämlich nicht, die Offenheit der Semantik des Textes zu leugnen. Die in die Tiefe des Hypothetischen hinabsteigende Genauigkeit öffnet andererseits einer Willkür die Tore, die sich um keine Rechtfertigungen mehr kümmern zu müssen glaubt. Ein Beispiel: In Becketts L’Innommable ist einmal die Rede von einer Insel, die der Namenlose (oder Unnennbare, wie die genaue Übersetzung des Titels lauten würde) nie verlassen hat. In dieser Insel haben andere Kommentatoren mit gutem Grund die irische Heimat des Autors gesehen: eine, horribile dictu, biographische Interpretation! Krings meint in derselben Insel nun einen Hinweis auf Kants Kritik der reinen Vernunft erkennen zu müssen, ein bekanntlich sehr umfangreiches Werk, in dem ebenfalls einmal, wenn auch in ganz anderer Weise, eine Insel metaphorisch evoziert wird. Solche Parallelisierungen zeugen von „Witz“ – wie Kant seinerzeit vielleicht gesagt hätte. Sie zeugen von einer satten Belesenheit und gediegenen Suchtechnik des Verfassers, der im Beckett-Kapitel einmal bemerkt, „dass sämtliche Theorie der Selbstreflexion nur noch zum bedeutungslosen Zeitvertreib der Geschichte taugen will, zu einem sinnlos gewordenen Berg von Bildung, über den man sich nur noch fabelhaft amüsieren kann.“ (S. 214) Dieser Satz ist Becketts Text nachempfunden und zeugt wohl von einer kritischen Skepsis gegenüber der abendländischen Metaphysik. Daß er am besten auf ihn selbst, der ihn formuliert, anzuwenden ist, scheint Krings freilich entgangen zu sein. Recht so, denn Parodie und Ironie sind Sache des Dichters, nicht seines Exegeten. Von hier aus fällt nebenbei ein Licht auf die Problematik von Textinterpretationen, die versuchen, den gesamten Kanon der abendländischen Geistesgeschichte an einzelne Texte heranzutragen. Solches Tun verrät ein notables Maß an Denkfeigheit, das vielleicht zur Ausübung dieses Berufs unabdingbar ist. Die Ergebnisse, zu denen Krings zu finden scheint, sind letztlich keine Ergebnisse von Verstehensprozessen, sondern Bestätigungen von bekannten und weithin akzeptierten Zuordnungen. Valéry auf den Spuren Mallarmés mit der Sehnsucht nach reiner Geistigkeit; Rilke auf den Spuren des Ideals ganzheitlicher Liebe und ästhetischer (aisthetischer) Geborgenheit; Celan ein Mystiker und Verfechter negativer Theologie, die paradoxe Werkstrukturen generiert; das scheinbar Tragische bei Beckett ein Prätext für slapstickhafte Komödie. Hat das alles mit „Egologie“ zu tun? Nein. Oder in einem so allgemeinen Sinn, daß bei der Herstellung von Zusammenhängen wenig Erkenntnisse abfallen. Rilke sehnte sich nach dem goldenen Zeitalter seiner Kindheit, wo es noch keine bösen Trennungen gab; er hing dem platonischen Mythos von der androgynen Ganzheit an; und auch der Begriff des „Ununterscheidbaren“, den sein Malte Laurids Brigge gebraucht, läßt sich unter dem Gesichtspunkt (!) der Wiederherstellung verlorener Einheit verstehen. Sprachmagie und Mystik (Valéry, Celan), aber auch die Suspension des Entweder/Oder bei Beckett, das Schweben seiner Figuren im Weder/Noch, das später – noch ein Gesichtspunkt! – Derrida zum Grundsatz seiner Denkmethode gemacht hat, lassen sich zurückführen auf ein Leiden an der Subjekt-Objekt-Spaltung, das sich in der Moderne wohl verschärft hat, aber durchaus anthropologischen Charakter besitzt und von zahlreichen Philosophen um(ge)schrieben wurde. Ob der Widerspruch jemals aufhebbar ist oder nicht, daran mögen sich die Geister geschieden haben und immer noch scheiden. Die eigentliche Klage – und auch das Rühmen vorweggenommener oder erfahrener Versöhnung – hat sich aber gerade bei diesen Autoren verlagert und läßt sich durchaus nicht immer auf philosophiegeschichtliche Konstellationen zurückführen. Vielleicht ging es Celan doch und im Ernst um bedrohte, abgerissene, wiederherzustellende Kommunikation? Wenn dem so ist, kann sich seine und unsere Analyse nicht um das Ich drehen, sondern eher doch um den anderen, um den Zugang zum anderen, wie ihn Levinas zu beschreiben, zu öffnen versuchte. Und vielleicht hat keiner der vier Autoren ernsthaft die Frage nach der Möglichkeit von Selbstidentität gestellt, weil sie eben Dichter waren und keine Grundlagenforscher, die zunächst einmal sicherstellen mußten, daß sie dachten, wenn sie dachten, ehe sie sich an die Sicherung weiterer Erkenntnisse machen – oder diese Arbeit anderen überlassen konnten.

Die Entwicklungspsychologie hat Modelle entwickelt, um die Selbstwahrnehmung der Körpereinheit und der Person nachzuvollziehen. Lacan hat aus der Feststellung eines Spiegelstadiums spekulative Schlüsse gezogen. Unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten ist Identität ein gesellschaftlich (also durch die Antwort des anderen) bestimmtes Faktum und eine Lebensnotwendigkeit für jedes Ich, aber kein Thema infiniter Reflexion. In der Dichtung wiederum scheint es – wir lassen Krings’sche Vorsicht walten – eher darum zu gehen, Erstarrungen des Identischen zu lösen, als zu einer absoluten Einheit zu gelangen und kunstsprachlich oder gar schweigend zu erstarren. Identität wäre in diesem Sinn nicht das zu Überwindende, sondern die zu umgehende Gefahr. Eine betont schöpferische, poetische Philosophie des Werdens – von Nietzsche zu Deleuze – trägt dieser Konstellation Rechnung. Die Schwebezustände Beckett’scher Subjekte, ihr Verharren vor jedem kleinsten Schritt der Identifizierung, als ginge es beim Sprechen/Nichtsprechen darum, zu vermeiden, sich der Sprachpolizei auszuliefern, ermöglichen unter Umständen der namenlosen Figur, mit Sicherheit aber dem Autor und dem Leser einen Lustgewinn abseits von Identitätslogiken. Und damit auch, hier stimmen wir Krings wieder zu, einen Erkenntnisgewinn angesichts der Aporien metaphysischen Denkens.
Die schmerzliche – nein, nicht durchwegs als schmerzlich empfundene Spaltung in ein Subjekt und das von ihm Angeschaute bzw. das Bewußtsein dieser Spaltung hat die europäische Dichtung spätestens seit der Romantik – nein, schon vorher, denn was ist Schillers Lamento über die Beschränktheit des sentimentalischen Geistes anderes als ein Nichthinnehmenkönnen jener gnoseologischen Spaltung? – umgetrieben. Wie der einzelne Mensch ist die Menschheit als solche erwachsen geworden, hat also den Zauber der Kindheit, der Geborgenheit in ungebrochener Totalität, verloren. Diese Diagnose, vom romantischen Marx genauso wie vom spätromantischen Rilke getätigt, setzt den Glauben an die Existenz eines goldenen Zeitalters voraus, eines Zustands, in dem die Differenzierungen des Erwachsenenlebens noch nicht nötig waren (Maltes „schweres Herz des Ununterscheidbaren“). Solcher Glaube zeugt von einem mythologischen Denken, dessen andere Seite Heilserwartungen sind, die politisch oder poetisch ausgemalt werden können. Dieses Feld fordert durchaus Stellungnahmen, von Philosophen, Politikern, Dichtern und, warum nicht, Hermeneutikern.
In seiner Schlußbetrachtung wägt Krings zwischen Zuviel-Differenz-zuwenig-Identität (Derrida, Dekonstruktion) und Zuviel-Identität-zuwenig-Differenz (Manfred Frank) ab. Diese Haltung erinnert an das besonnene Zensurenverteilen eines Mittelschullehrers. Natürlich bekommt niemand die Höchstnote, zumindest in Frankreich nicht, wo die 19 dem Lehrer vorbehalten ist und die 20 dem lieben Gott: ein metaphysisches, leibnizianisches System. Und ganz am Ende erfahren wir wiederum etwas, das wir schon gewußt haben, nämlich daß wir nichts wissen können: „So bleibt identisches Selbstbewußtsein rätselhaft.“ Jedenfalls mit Sokrates. Mit Kant müßten wir uns neuerlich aufmachen, um festzustellen, was wir wissen können, im Bewußtsein dessen, daß die Felder des Wissens Grenzen haben und niemand je die 20 erreichen wird.

Marcel Krings Selbstentwürfe
Zur Poetik des Ich bei Valéry, Rilke, Celan und Beckett.
Tübingen: Francke Verlag, 2005.
263 S.; brosch.
ISBN 3-7720-8103-7.

Rezension vom 08.05.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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