Viele der Geschichten handeln von Alltäglichem, Dingen, die bis zu einem bestimmten Grad wohl jeder kennt. Etwa die Hilflosigkeit, die einen überfällt, wenn man einem alten Freund auf der Straße begegnet und nicht so recht weiß, was und vor allem wie man miteinander reden soll; oder die Angst und Unsicherheit, die die Worte „Wir müssen reden“ in einer Beziehung nach sich ziehen; oder auch der seltsame Umstand, dass gewisse, vermeintlich unscheinbare Begebenheiten aus der Schulzeit irgendwie hängenbleiben und einen auch nach Jahren nicht mehr loslassen.
Andere Geschichten wiederum erzählen von sehr speziellen Träumen, Begierden oder Fantasien, wie zum Beispiel die Episode von Jessica, die sich lebhaft und bis ins Detail ausmalt, was alles beim Hüten einer fremden Wohnung passieren und schiefgehen könnte. „Oder es läutet, sie macht auf und bewaffnete Räuber verlangen von ihr die Wertsachen, aber sie weiß nicht, wo sie sind, und beginnt mit den Einbrechern die Wohnung auf den Kopf zu stellen, die Polizei wird von den Nachbarn benachrichtigt und Jessica wird zusammen mit den Einbrechern verhaftet, weil sie, als die Polizei eintrifft, gerade versucht, den Fernseher aus der Verankerung zu reißen.“
Doch unabhängig davon, ob nun von allgemeinen oder ganz spezifischen Ereignissen berichtet wird, gelingt es Zemmler immer wieder, auf kleinstem Raum ein ganzes Psychogramm der jeweiligen Figur entstehen zu lassen. Als Leser hat man – selbst, wenn die Geschichte nicht mal eine Seite lang ist – stets das Gefühl, man hätte einen umfassenden Einblick in das Leben eines Menschen erhalten, eine ausführliche Beschreibung der jeweiligen Person, mit all ihren Eigen- und Besonderheiten, schrulligen Angewohnheiten, Makeln und Macken. Im Grunde ist es, als blättere man ein Fotoalbum durch und bekomme zu jedem einzelnen Bild eine kleine Geschichte erzählt.
Manchmal reicht dabei schon ein Satz, der sofort anzeigt, in welche Richtung die jeweilige Geschichte geht: „Nur ab und zu gab sich Florian beim Kochen Mühe“, heißt es etwa an einer Stelle. In anderen Fällen wiederum schlagen die Geschichten mehrere Haken und hören ganz woanders auf, als man es sich anfangs vielleicht vorgestellt hat. Eine Figur etwa beginnt damit, die Straße zu beobachten, geht dann dazu über, ihre Finger zu zählen, und landet schließlich unvermittelt beim Thema Schwertkampf.
Eine der größten Stärken des Buches ist, dass die Geschichten nur in seltenen Fällen auf eine (Schluss-)Pointe zulaufen. Die meisten zeigen tatsächlich „nur“ einen Ausschnitt aus dem Leben eines Menschen, lassen dabei aber viel offen, sodass dem Leser genug Raum für eigene Gedanken und Interpretationen bleibt. Ob man die Geschichte von Connie, die nach einer ernsten Erkrankung ihr altes Leben hinter sich lässt und auf dem Land neu beginnt, als traurig oder tröstlich oder beides ansieht, hängt ganz von der eigenen Perspektive ab. Zemmler selbst nimmt keinerlei Wertungen vor, erzählt nüchtern, teilnahmslos, lakonisch und überlässt etwaige Deutungen den Lesern, den Zaungästen.
Grundsätzlich decken die Geschichten aber alle möglichen Aspekte ab, manche sind humorvoll und lustig, andere hingegen stimmten melancholisch oder nachdenklich. Und wieder andere sind einfach wohltuend schräg. So erfährt man etwa an einer Stelle, was die „wahre Leistung“ von Autoren ist – nämlich die Tatsache, dass sie es schaffen, „genauso viele Zeichen, also Buchstaben, Satzzeichen und Leerzeichen zu verwenden, dass jede Zeile genau gleich lang wurde, dass der Text auch rechts bündig wurde“. Das hat Zemmler mit Seiltänzer und Zaungäste im Übrigen auch geschafft. Doch abgesehen davon hat das Werk noch genug anderes zu bieten.