#Roman

Seidenschrei

Birgit Pölzl

// Rezension von Gerald Lind

Mit ihrem zweiten Roman, Seidenschrei, hat sich die Grazer Autorin Birgit Pölzl viel vorgenommen. Wirklichkeitserfahrungen sollen problematisiert und in einem poetischen Spiel die Grenzen zwischen dem Realen und dem Imaginären im Kontext schizophrener Wahrnehmung verwischt werden. Das Feld der Kunst und des Kunstmarktes, in dem der Roman angesiedelt ist, soll im Hinblick auf seine vom Zeitgeist bestimmten Praktiken einer kritischen Reflexion unterzogen und hinterfragt werden. Aber auch die Struktur des Romans wirkt ambitioniert. Die einzelnen Kapitel sind kurz, bisweilen vignettenhaft und mit programmatischen Überschriften versehen, auch wird versucht, verschiedene Textsorten wie Kinderaufsatz, Interview oder Pressetext zu integrieren.

Seidenschrei setzt ein mit einer Begebenheit, die den Anfangspunkt der Destabilisierung der Erzählerfigur, der Galeristin Maja Makovsky, markiert. Makovsky sitzt, emotional aufgewühlt, in einer Kirche, um den Tod ihrer Katze zu verarbeiten. Plötzlich sieht sie, wie eine junge Frau zum Altar tritt und Mantel und Kleider ablegt. Die Nacktheit der Frau in der Kirche, die sexuelle Semantisierung des sakralen Raumes, wird von Makovsky zugleich als beklemmend und anziehend erfahren. Für einen Moment scheint die Zeit einzufrieren, dann greift ein Priester ein, bringt die Frau weg und Makovsky bemerkt den zurückgebliebenen Mantel: „Da springt etwas: hält mich in Atem und verspannt mit dem Mantel. Mein Herz verrückt zur Brustmitte hin. Beginnt zu sehen, irr: wie das Herz sieht, ich hab so was getragen.“ (S.15) Makovsky steckt ihre Visitenkarte in den Mantel. Wenige Tage später steht dessen Besitzerin, Alina Anderwald, vor Makovskys Wohnung und zieht bei ihr ein.

Schon bald entspinnt sich ein homosexuelles Verhältnis zwischen Anderwald und Makovsky, das durch das Anbringen einer Herz-Jesu-Darstellung, die mit der kontinuierlich den Text durchziehenden, beim Betrachten des Mantels evozierten Gefühlserfahrung korrespondiert, im Schlafzimmer ein Gegensymbol erhält: „Wenn ich masturbiere, habe ich die Augen geschlossen, ich sehe Alina mit geschlossenen Augen. Wenn ich dann die Augen öffne und körpersatt auf das Flammenherz schaue, wird mir klar, wie groß der Unterschied ist: das Bildwissen gehört zur Brustmitte, die [sic!] Lustblühen gehört zwischen die Beine.“ (S.86) Obwohl mit dem Kurator Georg Stein liiert, lässt sich Makovsky auf eine Affäre mit dem von ihr ausgestellten Künstler Jean Schaufler ein, wobei das Durchbrechen des moralischen Ordnungssystems mit einem Verweis auf die mit Anderwald in einen Zusammenhang gesetzte Desintegration des Ichs legitimiert wird: „ich benehme mich, als wäre ich Alina.“ (S.113). Um einen „Rettungsanker“ (S.169) zu finden, befreundet sich Maja mit Susa, Exfrau Steins und Textilkünstlerin, eine persönlichkeitsstabilisierende Funktion sollen aber auch die positiv konnotierten Erinnerungen an die Großmutter übernehmen. Doch nichts verleiht Bodenhaftung, ein gemeinsam mit Stein verbrachter Aufenthalt in Berlin endet in einer Katastrophe: „Das Folgetonhorn, Susa zieht vorüber, Großmutter, Alina. Alina trägt den Mantel. Dann binden sie mich nieder.“ (S.200)

Leider gelingt es Birgit Pölzl nicht, das Niveau des gelungenen Einstiegs über den ganzen Roman durchzuhalten. Zu bald wird klar, dass es sich bei Anderwald um ein halluziniertes Gegenbild Makovskys handelt, man denke nur an die Initialen M.M. und A.A., zu deutlich ist die symbolische Funktion des wie „ein Requisit aus einem Historienfilm“ (S.59) aussehenden Mantels: „Vielleicht fängt sie mich mit dem Mantel, vielleicht ist der Mantel die Brücke, über die mich Alina betritt.“ (S.107) Und zu sehr scheint die Darstellung schizophrener Wahrnehmungswelten an simplifizierende Vorbilder aus der Unterhaltungsliteratur und aus Hollywoodfilmen angelehnt – ein Blick in die Bücher Leo Navratils hätte hier nicht nur Aufklärung über die Komplexität des Phänomens, sondern auch einen Einblick in die Schreibweisen tatsächlich Schizophrener vermitteln können.

Als nur wenig subtil muss auch die Kritik am Regelwerk des sozialen Feldes Kunst bezeichnet werden. Zwar versucht Pölzl, eine Gegenposition gegenüber den hegemonialen Diskursen innerhalb dieses Feldes einzunehmen, doch gelingt ihr das – trotz bemühter Ausführungen über das „Luzide“ – nur über eine stereotypisierte Darstellung der Akteure. Der theoretisch versierte Kurator Stein wird dem feinsinnigen Künstler Schaufler gegenübergestellt, während Makovsky eine Zwischenposition einnimmt. Einmal ist sie vom Intellekt des einen, einmal vom Gefühl des anderen angezogen, und schließlich ist auch noch Anderwald als, wie schon der Name sagt, das gänzlich Andere, in das Spiel miteinbezogen: „Georg kann mich nicht lieben bis zur Verzückung, er hat diese Kraft nicht, Jean eher, Jean ist als Liebhaber besser. Obwohl das alles nicht gilt, seit Alina mitspielt.“ (S.162)

Die Struktur des Romans entspricht schließlich keineswegs der im Klappentext versprochenen „fragmentierten Wahrnehmung Maja Makovskys“. Ob hier die Autorintention wiedergegeben wurde, muss offen bleiben, die über verschieden variierte Kapitelüberschriften und Textsorten erzeugte heterogene Oberfläche ist dazu jedenfalls kein Widerspruch. Unter dieser Oberfläche befindet sich jedoch ein cum grano salis kohärentes und chronologisches Narrativ, in dem sich der Leser leicht zurechtfinden kann. „Die werden sich in ihren Rezensionen mit Lobeshymnen überschlagen.“ (S.131), heißt es einmal in Bezug auf die von Makovsky organisierte Ausstellung Schauflers. Bei Seidenschrei kann diesem impliziten Wunsch der Autorin leider nicht entsprochen werden.

Replik der Autorin

Der Text, eher lyrisch strukturiert, wird von einer Frau in Ich-Form erzählt. Durchgehend. Die Frau leidet, wie sie selbst wiederholt sagt, an einer psychotischen Störung (vielleicht an einer seltenen Form schizophrener Psychose oder an einer neu auftretenden Form schizophrener Psychose, auch das ist möglich, wenn auch für die Kritik nicht vorstellbar). Die Frau könnte auch an einer psychotischen Störung leiden und hellsichtig sein, Fragmente aus einem anderen Leben könnte sie sehen. Das bleibt offen und will innerhalb der Roman-Struktur auch offen bleiben, in den Imaginationsraum des Lesers, der Leserin ästeln.

Die Kritik unterstellt, dem Roman gelänge eine Gegenposition gegenüber den hegemonialen Diskursen innerhalb des Feldes Kunst nur über eine stereotypisierte Darstellung der Akteure. Um zu diesem Befund zu gelangen, wird das, was der Stereotypisierung entgegen läuft, sorgsam ausgespart, das Potential etwa, das sich aus den Beschreibungen von künstlerischen Arbeiten, in der Ausfaltung von Konzept-Entwürfen, in Bezugnahmen auf Kunsttheorien und in der Diskrepanz aus der perspektivischen Wahrnehmung/Beschreibung der erzählenden Figur und den konkreten Handlungen ergibt. So wird Georg Stein von Maja Makowsky zwar als versierter Kurator beschrieben, doch zeigt die Berlin-Sequenz deutlich seine sensiblen und emphatischen Seiten. Auch wird die unterstellte Stereotypisierung „versierter Kurator“ durch sein Verhalten während der Telefongespräche durch die Schilderung seines Engagements um die Kinder etc. konterkariert.

Die Kritik unterstellt weiters, der Roman scheitere an der Darstellung schizophrener Darstellungswelten und erteilt den Ratschlag, doch bei Navratil nachzuschlagen (dafür und für die implizite Unterstellung, die Schriften nicht zu kennen, extra Dank) und übersieht dabei, dass der Roman schizophrene Welten gar nicht darstellen will. Der Roman will in einem poetisch strukturierten Vexierspiel und weit gesteckten Konnotations- und Imaginationsräumen Fragen stellen. Ob es Hellsicht zum Beispiel gäbe oder ob, was die Protagonistin wahrnimmt, ausschließlich psychotisch sei. Der Roman will die Frage stellen, ob eine Gesellschaft, die sich über Pofessionalisierung und Zielgerichtetheit definiert, systemisch „Störungen“ generiert, um dem Luziden Raum zu geben. Der Roman will den globalisierten Neoliberalismus als Kippen eines Ordnungssystems darstellen und dieses Kippen in Bezug setzen zu anderen aus der Geschichte bekannten Implosionen von (sozialen) Systemen. Der Roman expliziert das alles nicht, der Roman macht sich angreifbar, weil nur im Verknüpfen sämtlicher Bilder seine Intention klar wird. Das ist sein Risiko.

Die Erzählerin Maja Makowsky ist handelnde Figur, nimmt als solche keine Metaposition ein, ist vor allem nicht verlängerter Arm oder Stimme der Autorin, wie die Kritik insinuiert. So wird die Mutmaßung Maja Makowskis „Die werden sich in ihren Rezensionen mit Lobeshymnen überschlagen“ (S.131) als Wunsch der Autorin dargestellt und auch dabei übersehen, dass die Stelle implizit eher das Risiko des Romans andeutet als auf Wünsche der Autorin abzuzielen, das Zitat lautet denn in seiner vollen Form auch: „Die werden sich in ihren Rezensionen mit Lobeshymnen überschlagen. Weil du auf sie gehört hast, weil du ihre Kritik beherzigt hast und endlich etwas vorlegst, das deinen Mangel an Zeitgenossenschaft kompensiert. Der hat sie bis dato ja ziemlich gereizt.“ Zeitgenossenschaft fordert diese Kritik über mimetisch strukturiertes Erzählen ein und ahndet die Verweigerung mit entsprechenden Wertungen.

Jeder Text entwickelt im Laufe des Geschrieben-Werdens ein Bewusstsein, das Bewusstsein dieses Textes möchte ich als Risikobewusstsein beschreiben. Der Text weiß um sein Risiko, nämlich nur verstanden und erfasst zu werden in Rezeptionsformen, die sich nicht an mimetische Maßstäbe klammern, in Rezeptionsformen, die Metaphern und Bildsequenzen vielfach zu verknüpfen, fortzuspinnen in der Lage sind. Einige Leser und Leserinnen werden ihre Freude daran haben, einigen wird das Zumutung und Ärgernis sein.

Birgit Pölzl Seidenschrei
Roman.
Graz: Leykam, 2007.
200 S.; geb.
ISBN 978-3-7011-7575-8.

Rezension vom 24.04.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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